1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 KYOSHI.
Ein Mann mit einer tiefen Stimme rief nach ihr, seine Worte wurden vom Wind zerrissen, der an ihren Ohren vorbeizischte. Die Stimme gehört nicht Jinpa.
KYOSHI.
Der Schock, ins kalte Salzwasser einzutauchen, war eine Erleichterung nach der heißen Qual. Sie wusste nicht, wo oben und unten war. Ihre Gliedmaßen trieben schwerelos im Wasser. Als sie die Augen öffnete, spürte sie das erwartete Brennen des Salzwassers nicht.
Aus dem endlosen Blau tauchte eine Gestalt vor ihr auf, die ebenso schlaff im Wasser trieb wie sie. Ihr Gegenüber war nur undeutlich zu sehen, wie eine Tuschezeichnung, die jemand in einen Fluss geworfen hatte, doch sie wusste, wer diese Erscheinung war, die in die Felle des Wasserstamms gehüllt war.
Avatar Kuruk.
… KYOSHI … BRAUCHE DEINE HILFE, UM …
Die Stimme ihres direkten Vorgängers im Avatarzyklus war viel lauter im Wasser, seinem natürlichen Element. Sie donnerte in ihren Ohren.
… KYOSHI … DU MUSST … ICH KANN NICHT …
Eine Hand fuhr in Kuruks Leib und löste seine Erscheinung auf wie Tinte im Wasserglas. Sie packte Kyoshi am Kragen und zog sie nach oben. Das Salzwasser, das ihr bisher nichts ausgemacht hatte, biss ihr nun umso heftiger in die Augen. Sie vergaß, dass sie immer noch im Meer war, schnappte instinktiv nach Luft und bekam einen Schwall Wasser in die Kehle. Falls Kuruks Zauber sie bisher vor dem Ertrinken bewahrt hatte, so war er nun gebrochen.
Jinpa schlug mit den Beinen und zerrte sie, während er sie mit einer Hand festhielt, auf das gebrochene Sonnenlicht zu. Zuerst versuchte Kyoshi, ihm noch zu helfen, indem sie selbst schwamm. Beschämend lange strampelte sie herum, bis ihr wieder einfiel, dass sie eine Wasserbändigerin war – umgeben von Wasser. Rasch hob sie die Arme und brachte Jinpa und sich selbst an die Oberfläche.
Sie brachen hindurch und spuckten Wasser. Kyoshi hustete und keuchte, bis sie endlich wieder atmen konnte. Yingyong schwebte nahebei in der Luft und knurrte besorgt.
»Geht es Euch gut?!«, rief Jinpa prustend. »Seid Ihr verletzt?«
»Mir fehlt nichts«, sagte Kyoshi. Der Kopfschmerz hatte sich weitestgehend in den Ozean hinein verflüchtigt. »Ich hab nur das Gleichgewicht verloren und bin rausgefallen.«
» Rausgefallen? « Jinpa war so wütend auf sie, wie es ein Luftbändiger nur sein konnte. Er hatte die Stimme erhoben. Und er guckte böse .
»Es war Kuruk.« Kyoshi presste die Hände gegen die Schläfen, um das dumpfe Pochen zu lindern. Dank ihres Bändigens mussten sie sich keine Mühe geben zu schwimmen. »Er hat versucht, mir irgendwas zu sagen.«
»Avatar Kuruk?! Ihr … Ihr habt mit Avatar Kuruk gesprochen? Es sah aus, als hättet Ihr einen Anfall!«
»Normalerweise ist es nicht so schlimm. Die letzten paar Male hat es nicht so wehgetan.«
Jinpas Kiefer drohte, sich auszuhaken und ins Meer zu plumpsen. »So was ist schon mal passiert und Ihr habt mir nichts davon erzählt? Kyoshi, wenn ein Avatar mit einem vergangenen Ich kommuniziert, sollte das eine heilige Erfahrung sein, kein lebensbedrohlicher Krampfanfall!«
Kyoshi schnitt eine Grimasse. Das wusste sie doch! Sie wusste selbst, wie dünn und brüchig ihre spirituelle Verbindung war. Sie hatte es durch Versuch und Irrtum herausgefunden.
Genau einmal hatte sich ihr der Avatar der Wasserstämme in seiner ganzen Gestalt gezeigt, im Südlichen Lufttempel. Er hatte die Dreistigkeit besessen, sie um Hilfe zu bitten, um sich dann ebenso schnell wieder in Luft aufzulösen. Allein und desorientiert war sie zurückgeblieben und hatte sich gefragt, was sie mit solch einer nutzlosen Vision bloß anfangen sollte.
Die Erfahrung hatte sie jedoch daran erinnert, dass sie Zugang zu einer wahren Fundgrube weltlichen Rats hatte, in der Gestalt ihrer vergangenen Leben. Dieser ungeheure Erfahrungsschatz voller Weisheit war quasi zum Greifen nah. Wenn sie doch nur ihren eigenen Geist meistern könnte.
Kyoshi hatte versucht, mit vorigen Generationen des Zyklus in Kontakt zu treten. An heiligen Stätten des Südlichen Lufttempels hatte sie meditiert, in Schreinen am Wegesrand im Erdkönigreich, die den großen Avataren Yangchen und Salai gewidmet waren, an Orten natürlicher Schönheit auf Bergen und neben dahinströmenden Flüssen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es leicht sein würde. Sie hatte gelesen, dass Spiritualisten meist ihr ganzes Leben damit verbrachten, die Kunst von Meditation, Trance und Erleuchtung zu erlernen. Kyoshi war voll darauf gefasst gewesen, von der Stille des Versagens begrüßt zu werden, wenn sie versuchte, mit ihren vorigen Inkarnationen zu sprechen.
Worauf sie jedoch nicht gefasst gewesen war: dass sie lediglich Bruchstücke von Kuruk bekommen würde.
Und zwar nur von Kuruk.
Jedes … einzelne … Mal !
Ihre Meditationen hatten immer den gleichen Effekt. Sie wandte sich nach innen, versuchte, in Einklang mit ihrer Vergangenheit zu kommen, und dann traf sie auf die verschwommene Gestalt des Wasseravatars, der irgendwelche abgehackten Sätze voller Unsinn ausspuckte. Sie hatte versucht zu entschlüsseln, worum er sie bitten wollte, aber ihre Verbindung zu ihm schien einfach nicht stark genug zu sein.
Außerdem taten ihr die Sitzungen mit all dem Zähneklappern und den Zuckungen nicht gut. Darum hatte sie nie einen Weisen, der die Geisterwelt bereits besucht hatte, gefragt, ob er ihre Meditation anleitete. Sie hatte sich vor einer Reaktion wie der Jinpas gefürchtet, wenn jemand ihr dabei zusah, wie sie so offenkundig und schmerzlich scheiterte. Schlimm genug, dass sie als Avatar Schwierigkeiten hatte, mit ihren früheren Inkarnationen Kontakt aufzunehmen. Dass sie jedoch gewaltsam weggestoßen und quasi zur Tür hinausgejagt wurde wie ein Dieb, der sich für seinen Einbruch das falsche Haus ausgesucht hatte, das war etwas ganz anderes. Kyoshi hatte keinen Bedarf, ihre Legitimität noch mehr infrage gestellt zu sehen, als das ohnehin schon der Fall war.
Am Ende hatte sie ihre Versuche aufgegeben. Von Kuruk hatte sie ohnehin von Anfang an nicht viel gehalten, und wenn er als Einziger von tausend willens war, mit ihr in Kontakt zu treten, dann konnte sie darauf verzichten. Gelegentlich ließ er ihr jedoch keine Wahl und erschien ungebeten.
»Das ist keine große Sache«, sagte sie zu Jinpa. »Hin und wieder hab ich eine Vision von Kuruk oder ich hör seine Stimme. Ich verstehe aber nie, was er sagen will.«
Jinpa konnte nicht fassen, dass sie darüber sprach wie über ein Knie, das schmerzte, bevor es regnete. »Kyoshi«, sagte er und musste um die Seelenruhe seiner Ahnen beten, um angesichts ihrer Unfähigkeit nicht einen Zusammenbruch zu erleiden und in Tränen auszubrechen. »Wenn ein Avatar der Vergangenheit eine Botschaft hat, dann ist das gewöhnlich von größter Bedeutung.«
»Na schön!«, schrie sie. »Sobald wir die Gelegenheit haben, finden wir einen großen erleuchteten Meister, von dem ich lernen kann, mit Kuruk zu sprechen! Können wir uns jetzt bitte wieder um unsere andere höchst dringliche Mission kümmern? Oder willst du irgendwie auf einen Rutsch alles in Ordnung bringen, was mit mir nicht stimmt?«
Der verletzte Ausdruck und die tiefe Enttäuschung auf dem Gesicht des Mönchs sprachen Bände. Kyoshi war nicht nur ein schlechter Avatar, sie war auch noch eine schlechte Herrin für ihren Sekretär, die ihn nicht nur anschrie, sondern ihn sogar beleidigte. Nicht einmal Jianzhu hatte seine Bediensteten derart zur Schnecke gemacht. Eigentlich hätte sie es besser machen müssen, schließlich wusste sie selbst, wie das war.
Und Jinpa hatte sie vor dem Ertrinken bewahrt. Hätte sie statt leichter Reisekleidung ihre schweren Gewänder und ihre Armschienen getragen, dann wäre sie vielleicht so schnell untergegangen, dass er sie nicht mehr hätte einholen können.
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