Ein dünner Wasserstrahl schlängelte sich aus dem Gefäß hervor und legte sich um Kyoshis Hals. Das Wasser war kühl und linderte den Juckreiz. Sie konnte spüren, wie sich ihre Haut wieder zusammenfügte. Jinpa sah ihr mit großen, sorgenvollen Augen bei ihrer kruden Selbstverarztung zu.
»Müsste Heilwasser nicht leuchten?«, fragte er.
»Hab ich noch nie hingekriegt.« Die Büchereien des Anwesens in Yokoya waren voller dicker Schwarten, die die medizinische Nutzung des Wasserbändigens behandelten, aber Kyoshi hatte bisher weder Zeit noch einen ordentlichen Lehrer gehabt, um sich dieses Wissen anzueignen. Trotzdem hatte sie so viele der Texte gelesen, wie sie konnte, und die Wunden, die sie sich als Avatar einhandelte, gaben ihr reichlich Anlass, an sich selbst zu üben.
Eines hatte sie sich jedenfalls geschworen: Wie begrenzt ihr Wissen auch sein mochte oder wie unzureichend ihre Technik – nie wieder würde sie tatenlos zusehen, wie jemand, der ihr etwas bedeutete, vor ihren Augen einfach starb.
Sie schleuderte das Wasser in den Krug zurück und fuhr mit dem Finger über die Narbe, die an ihrem Hals zurückgeblieben war. Wenn das so weitergeht, seh ich bald wie Tante Muis Flickendecke aus . Die Narbe würde sie mit mehr Make-up oder einem höheren Kragen verstecken können. Die fleckigen, geheilten Brandwunden an ihren Händen, die sie Xu Ping An zu verdanken hatte, erinnerten sie jedoch daran, dass ihr bald die Körperteile ausgehen würden, an denen sie sich verletzen und die sie dann verstecken könnte. »Was gibt es für Neuigkeiten?«
Jinpa nahm Platz und zog einen der vielen an den Avatar gerichteten Briefe heraus, deren Siegel er bereits gebrochen hatte. Dieses Privileg hatte sie ihm eingeräumt. Während sie sich zum ersten Mal als Avatar im Südlichen Lufttempel aufgehalten hatte, hatte er ihr fortwährend mit der Planung und Kommunikation geholfen. Irgendwann hatten die Älteren seines Ordens nur noch mit den Schultern gezuckt und ihn offiziell als Kyoshis Sekretär eingesetzt. Ohne seine Hilfe wäre sie völlig überfordert gewesen und irgendwann einfach zusammengebrochen.
»Statthalter Te berichtet untertänigst: Das Dorf Zigan hat seine vormals höchste Einwohnerzahl überschritten und kann sich nun einer neuen Schule und einer Kräuterklinik rühmen, die den ärmsten Bürgern beide unentgeltlich zur Verfügung stehen«, las Jinpa laut vor. »Na, so was. Die Familie Te ist nicht gerade für ihre Großzügigkeit bekannt. Ich frag mich, was plötzlich in den jungen Sihung gefahren ist.«
Ja, was nur? Te Sihung hatte als erster Amtsinhaber des Erdkönigreichs erfahren, dass Kyoshi der Avatar war – kurz nachdem sie beschlossen hatte, ihn beim Überfall der Daofei auf sein Haus nicht zu ermorden. Gleich nach ihrer öffentlichen Enthüllung hatte sie Te klargemacht, dass er nach wie vor in ihrer Schuld stand und sie ihn weiterhin beobachten würde. Das Wissen, dass seine Macht ihn nicht immun gegen Konsequenzen machte, hatte anscheinend sein Mitgefühl und sein Können als Statthalter beflügelt.
Gute Neuigkeiten waren derzeit selten. »Was noch?«, fragte sie Jinpa in der Hoffnung auf mehr.
Er zog den Mund schief. »Der Rest der Briefe sind Ersuche um Audienzen von Adligen, die Ihr bereits abgewiesen oder gar nicht erst beachtet habt.«
»Alle?« Sie beäugte den hohen Papierstapel und runzelte die Stirn.
Jinpa zuckte mit den Schultern. »Ihr habt bereits eine Menge Adlige abgewiesen oder ignoriert. Die Leute des Erdkönigreichs sind eben besonders hartnäckig.«
Kyoshi widerstand dem Drang, den ganzen Stapel in Brand zu setzen. Sie musste nicht alle Briefe lesen, um zu wissen, dass jeder einzelne irgendeine Forderung stellte, dass der Avatar in einer geschäftlichen, politischen oder finanziellen Angelegenheit zugunsten des Schreibers entscheiden möge.
Das hatte sie schon nach den ersten paar Stichproben verstanden. Wann immer Kyoshi eine unverfängliche Einladung zu einem Bankett akzeptierte, eine spirituelle Zeremonie leitete oder einen neuen Kanal oder eine Brücke segnete, kam irgendwann der Gastgeber, der Statthalter oder der mit dem größten Landbesitz – oftmals handelte es sich dabei um ein- und dieselbe Person – und wollte mit ihr unter vier Augen über materielle Dinge sprechen, mit denen sie Kuruk oder die große Yangchen niemals behelligt hätten. Aber Kyoshi war ja nicht wie die anderen, richtig? Sie verstand, wie im Erdkönigreich Geschäfte gemacht wurden.
Sie verstand es tatsächlich. Das bedeutete allerdings nicht, dass es ihr auch gefiel. Dieselben Weisen, die Jianzhus letztem Willen und Testament zum Trotz vehement ihre Avatarschaft abgestritten hatten, dieselben Adligen, die sie des Betrugs bezichtigt hatten, obwohl sie mit angesehen hatten, wie Kyoshi Wasser und Erde über ihrem Kopf herumwirbeln ließ, sie alle wurden schlagartig zu wahrhaftigen Gläubigen, wenn sie annahmen, dass es ihnen helfen würde, sich innerhalb der endlosen Hierarchien des Erdkönigreichs mehr Wohlstand und Macht einzuverleiben. Der Avatar konnte ein Urteil darüber fällen, wo die Grenze zwischen zwei Provinzen zu liegen hatte und welcher Statthalter auf reichem Getreideland die Steuern eintreiben können würde. Der Avatar konnte einer Handelsflotte helfen, ihre Route schneller und sicherer zu bewältigen und so das Leben der Seeleute schützen, doch am Ende sicherte sie so vor allem den Auftraggebern gewaltige Profite.
Kyoshi hatte schon bald gelernt, solche Gesuche zu ignorieren und sich auf das zu konzentrieren, was sie mit ihren eigenen Händen erreichen konnte. »Diese Nachrichten können warten«, sagte sie. Insgeheim hoffte sie, die ganze Korrespondenz würde einfach verpuffen, wenn sie nur hinreichend kalt und herrisch klang.
Jinpa bedachte sie mit einem sanften, aber tadelnden Blick. »Avatar … Ihr mögt mir verzeihen, aber ein wenig müsst Ihr Euch schon mit den gehobenen Kreisen abgeben. Ihr könnt Euch der Frage nach der Führung des Erdkönigreichs nicht auf ewig entziehen.«
Das Erdkönigreich hat keine Führung , dachte Kyoshi. Ich hab geholfen, denjenigen umzubringen, der einem Anführer am nächsten gekommen wäre .
»Die Pflichten, die Ihr in Eurer Position habt, gehen über die eines mächtigen Bändigers hinaus«, fuhr er fort. »Ihr habt das Land von den größten Banditengruppen befreit, und wie Ihr diesen Mok aufgespürt und davon abgehalten habt, weiterhin Unschuldige zu verletzen, war höchst beeindruckend. Aber jetzt verausgabt Ihr Euch nur noch und mischt immer wieder dieselben Halunken auf. Den Boden des Verbrechensfasses zu schrubben, ist das denn wahrhaftig schon das Beste, was Ihr für die Vier Nationen tun könnt? Ganz zu schweigen von den Risiken für Eure persönliche Sicherheit.«
»Davon verstehe ich eben was.« Und nur so kann ich sicher sein, dass das, was ich tue, richtig ist .
Dieses Gespräch hatten sie bereits geführt, und zwar viele Male, doch Jinpa wurde es nicht müde, immer wieder davon anzufangen. Anders als die anderen Luftnomaden, die sie kennengelernt hatte und die ihre Loslösung von der Welt sehr schätzten, trieb er sie immer wieder an, sich eingehender mit ebenjenen zu befassen, die sie ausnutzen wollten. Er war nicht viel älter als Kyoshi, etwas über zwanzig, daher war es seltsam, wenn er mit ihr sprach wie ein Politiklehrer mit einem widerspenstigen Schüler.
»Irgendwann müsst Ihr auf einer größeren Bühne stehen«, sagte Jinpa. »Der Avatar schlägt Wellen in der Welt, ob er will oder nicht.«
»Ist das so eine Redensart bei deinen mysteriösen Freunden, von denen du mir nichts erzählst?«
Angesichts ihres ungeschickten Versuchs, das Thema zu wechseln, zuckte er nur mit den Schultern. Auch das frustrierte sie an Jinpa: Anders als Kirima oder Wong ließ er sich nicht auf irgendwelche Wortgefechte mit ihr ein. Er hatte zu viel Respekt vor ihr – ein Problem, das ihre alten Gefährten nicht gekannt hatten, selbst dann nicht, als sie erfahren hatten, dass sie der Avatar war.
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