»Am Haupttor, aber nicht zu nah dran.« Als ehemalige Dienerin wusste Kyoshi, dass die höheren Stände es schätzten, wenn die Besucher ihre Residenz in genau der richtigen Art und Weise betraten: Tief beeindruckt und voller Ehrfurcht sollten sie durch eine sorgsam entworfene Ausstellung der Kultur und Macht wandeln. Und die herrschende Familie stand in der Feuernation nun mal an höchster Stelle.
Yingyong landete auf der Allee, die den Steinring in zwei Hälften teilte. Sie stiegen ab und legten den Rest des Wegs zum Torhaus zu Fuß zurück: Am Boden bewegte sich der Bison wegen des fehlenden Beins mit einem ziemlich holprigen Gang, bei dem man sich nur schwer im Sattel halten konnte. Das Gepäck wäre ihm von den Schultern gerutscht, wenn es nicht sicher festgebunden gewesen wäre.
Sie erreichten das schwere Eisentor, imposant und unnachgiebig, das weder Gucklöcher noch einen Sichtschlitz oder sonst irgendeine Möglichkeit besaß, um hindurchzuspähen. Kyoshi fragte sich gerade, ob sie klopfen sollte, da durchbrach ein metallisches Mahlen die unbehagliche Stille. Irgendwo im Inneren griffen die Räder schwerer Maschinen ineinander und ächzten unter der Last. Das Tor bewegte sich, nicht nach außen oder innen, sondern geradewegs nach oben.
Dahinter kam ein Mädchen zum Vorschein – Zoll für Zoll, als wäre der Anblick dieser Person, diese Inkarnation roher Kraft, für bloße Sterbliche nicht auf einmal zu ertragen. Und manchmal glaubte Kyoshi das. Die erhabene Schönheit der Kraterstadt und des Königspalastes waren nichts im Vergleich zu der Herrlichkeit, die sich in diesem Moment vor ihr offenbarte.
Das Tor beendete seine qualvolle Reise mit einem lauten metallischen Knall. Der Bogengang dahinter wurde von Fackeln erhellt, von denen keine so hell leuchtete wie das Paar bronzefarbener Augen, das Kyoshi von oben bis unten musterte. Abgesehen davon, dass sie nun die Rüstung eines höherrangigen Offiziers trug, mit weniger Spitzen und überhängenden Klappen und mit mehr Goldbesatz, sah Rangi noch immer genauso aus wie vorher. Ihr tintenschwarzes Haar war nachgewachsen und besaß wieder seine alte Länge. Ihre Haltung war genauso starr und unbeugsam, wie Kyoshi es in Erinnerung hatte.
Auch hüllte sie sich nach wie vor in dieselbe Aura unanfechtbarer Überlegenheit. In Rangis Gegenwart zu sein bedeutete, ihren Ansprüchen nicht zu genügen. Wenige Sekunden Stille genügten, um Kyoshi zum Zittern zu bringen.
Ihre schlimmsten Ängste bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche. Es war genug Zeit vergangen, dass Rangi zu Kyoshis Ehemaliger geworden sein konnte: ehemalige Lehrerin, ehemalige Leibwächterin, ehemalige … eben alles.
Dann wurde die Stille von einem Geräusch durchbrochen, das Kyoshi bisher nur ein einziges Mal gehört hatte: Rangi, die so sehr lachte, als würde sie ersticken.
Die Feuerbändigerin stützte sich mit der Hand an der nächsten Wand ab und rang nach Luft, als hätte sie die ganze Zeit über den Atem angehalten, während das Tor sich geöffnet hatte. »Ich musste rennen … den ganzen Weg über das Grundstück … um beeindruckend auszusehen, wenn ich dich begrüße«, keuchte sie. »Ich glaub, ich bin nicht mehr in Form.«
Der eisige Schraubstock, der sich um Kyoshis Herz gelegt hatte, wurde auseinandergesprengt und es konnte wieder schlagen. »So hast du das also immer gemacht?« Seit sie sie kannte, hatte Rangi stets irgendwo auf sie gewartet, meist lächerlich früh am Morgen, oder sie war in letzter Minute plötzlich und auf dramatische Weise wie aus dem Nichts aufgetaucht. Zu wissen, dass sie einfach nur mit Höchstgeschwindigkeit von hier nach dort gehetzt war, nahm dem Mysterium ein wenig den Zauber.
Rangi grinste und nickte, während sie langsam wieder zu Atem kam. »Wenigstens muss ich mir keine Sorgen machen, dass mich jemand von der Feuernation so sieht. Der einzige tote Winkel der Verteidigungsanlagen ist genau hier – direkt unter dem Tor selbst. Was bedeutet, dass ich das hier tun kann.«
Sie legte die Hände um Kyoshis Nacken und zog sie zu sich unter den Bogen, geradewegs in einen glühend heißen Kuss hinein.
KYOSHI VERGAß SCHLAGARTIG,warum sie eigentlich hier war. Wo sie war. Wo oben und unten war. Rangi küsste all ihre Erinnerungen fort. Sie verschmolzen miteinander, bildeten eine Legierung.
Und dann brach Rangi den Kuss ab und trat einen Schritt zurück – womit sie aus Kyoshis Sicht ungeheure Grausamkeit an den Tag legte. »Willkommen in der Feuernation, Avatar«, sagte sie, wieder ganz professionell. Sie glättete eine Haarsträhne, die verrutscht war, verhielt sich aber sonst so, als hätte sie Kyoshi nicht gerade allein mit ihren Lippen um den Verstand gebracht.
Der Avatar taumelte noch immer, war zu benommen, um zu antworten. »Herrin Rangi, sagte Jinpa und lief flink um Kyoshi herum, um ihre Gastgeberin zu begrüßen. Auf Luftnomadenart legte er die Handflächen zusammen und verbeugte sich vor ihr. »Schön, Euch endlich persönlich kennenzulernen.«
Kyoshi wurde unwillkürlich rot. Jinpa wusste, wer Rangi war, aber sie war nicht sonderlich begeistert, dass ihr Sekretär einen solch intimen Moment mitbekam. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was er später in seine Notizen schreiben würde: Tag eins von Kyoshis erstem Besuch der Feuernation , würde er für die Nachwelt festhalten. Avatar Kyoshi küsst unangemessenerweise die Liebe ihres Lebens, auf der Schwelle zur sichersten Festung der Welt .
»Bruder Jinpa«, sagte Rangi so freundlich, wie sie es selten gegenüber jemandem war. »Ihr beehrt mich mit Eurer Anwesenheit. Ihr könnt den Bison ruhig am Tor lassen: Unsere Stallmeister wissen, wie man sich um die Reittiere jeder Nation kümmert.« Sie beugte sich vor und zwinkerte ihm zu. »Ich werde sie wissen lassen, dass ich ihnen das Leben zur Hölle mache, wenn sie Euren Gefährten schlecht behandeln.«
Jinpa lachte, bis er Kyoshis Blick auffing und begriff, dass das kein Scherz gewesen war. Das Lachen blieb ihm im Hals stecken. Er ging zurück und löste Yingyongs Zügel. » Sei ein guter Junge und bleib «, hörte Kyoshi ihn dem Bison ins Ohr flüstern, woraufhin das Tier kummervoll brummte. » Ja, ich weiß, sie ist Furcht einflößend. Mir passiert schon nichts .«
Sobald sie Yingyong in guten Händen wussten, gingen Kyoshi, Rangi und Jinpa den Tunnel entlang. Er war dafür entworfen, Menschen darin umzubringen. Die Wände waren mit Eisenplatten ausgekleidet, in die kleine Löcher gebohrt waren, durch die man Pfeile und Feuerstöße schießen konnte. Der Boden wirkte solide, allerdings schien sich darunter ein Hohlraum zu befinden, was wohl bedeutete, dass die Verteidiger sie mit einem Hebel plötzlich in die Tiefe stürzen lassen konnten.
Ein kurzes Husten echote durch den Gang, dann wurde es gewaltsam unterdrückt. Es stammte weder von Kyoshi noch von ihren Begleitern. Ihr Blick zuckte umher, glitt erneut über die Wände. Wenn hinter jedem Loch ein Soldat stand, dann schaute ihnen gerade ein ganzer Trupp dabei zu, wie sie vorbeigingen.
Kyoshi versuchte nervös, alles in diesem eisernen Schlund im Auge zu behalten, bis sie endlich auf der anderen Seite der Mauer auf einen gepflasterten Platz herauskamen. Das karge Grün des Gartens ließ keinerlei beruhigende Wirkung entstehen. Ein einzelner Minister erwartete sie. Er war in die rote und schwarze Seide der Zivilbehörden gekleidet und machte einen ganz und gar unglücklichen und verspannten Eindruck.
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