»Avatar Kyoshi«, sagte er. Er verbeugte sich tief und sein langer Schnurrbart hing schlaff herab. »Ich bin Kanzler Dairin, der oberste Palasthistoriker. In Feuerlord Zoryus Namen begrüße ich Euch in unserem Land.«
»Die Ehre ist ganz meinerseits, Kanzler«, erwiderte Kyoshi. »Wo ist der Feuerlord? In seiner Nachricht hieß es, wir hätten wichtige Angelegenheiten zu besprechen.«
Dairins Miene wirkte noch säuerlicher als zuvor. »Im Moment ist er … indisponiert. Ihr werdet Feuerlord Zoryu heute Abend kennenlernen.«
Eine derart brüske Begrüßung hatte Kyoshi nicht erwartet. Andererseits musste sie zugeben, dass gerade sie nicht das Recht hatte, jemanden für seinen Mangel an Diplomatie zu kritisieren.
Rangi schritt ein, um von der peinlichen Stille abzulenken. »Ich glaube, der erste Punkt auf der Agenda ist die Palasttour, Kanzler«, sagte sie. »Kyoshi hat mir ständig damit in den Ohren gelegen, dass sie unbedingt mehr von einem der führenden Avatargelehrten unserer Welt erfahren will.«
Ihre Schmeichelei wirkte, als würde man einem wütenden Kind ein Bonbon in den Mund stecken. Dairin konnte nicht zeigen, wie sehr er sich freute, ohne zu riskieren, albern auszusehen. »Natürlich«, sagte er und gab sich redlich Mühe, eine noch missmutigere Miene aufzusetzen. »Ich kann Euch versichern, die Führung ist sehr lang und umfassend. Hier entlang, bitte.«
Gemeinsam mit den anderen schritt Kyoshi feierlich durch die königlichen Korridore, wie es schon ihre Vorgänger seit der Vereinigung der Feuerinseln getan hatten. Die großen Hallen des Palastes waren völlig verwaist, was nur eine Möglichkeit zuließ: Die Dienerschaft beobachtete sie und ging ihnen aus dem Weg; Wachen und Bedienstete verschwanden hinter Ecken, um die Augen des Avatars nicht mit ihrer Anwesenheit zu beleidigen. Diesen Trick kannte Kyoshi sehr gut. Er erzeugte die Illusion von Ruhe und Abgeschiedenheit, obwohl es einer ganzen Armee an fleißigen Leuten bedurfte, um ein derart großes Anwesen in Schuss zu halten.
Während sie weitergingen und dabei so taten, als wären sie allein, wies Dairin sie auf Kästen aus klarem Kristall hin, in denen Schriftrollen mit Poesie und Leitsätzen lagen, die von diversen Feueravataren stammten. Kyoshi nickte, wie es sich gehörte, als er ihr in Nischen ausgestellte Juwelen und vergoldete Haarnadeln zeigte, die sie in früheren Leben getragen haben musste.
Kein einziges Spielzeug , stellte sie fest. Dafür viele Jians, Daos , Dolche mit Gravuren. Die Relikte jeder Nation besaßen ihre eigene Persönlichkeit und Feuer und Luft hätten nicht unterschiedlicher sein können.
Jinpa stellte Dairin allerlei Fragen und bat nach jeder Antwort wie ein eifriger Student um weitere Ausführungen. Die beiden gingen voraus und Kyoshi und Rangi fielen ein wenig hinter ihnen zurück. Jinpa zwinkerte Kyoshi über die Schulter verstohlen zu, um sie wissen zu lassen, dass er den beiden Bummlern absichtlich die Gelegenheit verschaffte, miteinander zu reden.
Kyoshi musste ihm unbedingt eine Gehaltserhöhung geben. Sie zahlte ihm zwar gar nichts – der Mönch diente dem Avatar aus einem selbst auferlegten Pflichtgefühl heraus –, aber eine Gehaltserhöhung hatte er trotzdem verdient. »Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Kyoshi Rangi im Flüsterton. Das letzte Mal, als sie Hei-Ran gesehen hatte, hatte ihr Leben am seidenen Faden gehangen.
»Gut genug, dass sie heute Abend mit dir sprechen will, auf deinem Empfang«, erwiderte Rangi ebenso leise.
Als wäre dieser Besuch nicht ohnehin schon nervenaufreibend genug. Gleichzeitig war sie unendlich froh zu hören, dass Hei-Ran wieder gesund war. Das erklärte auch, wie ungezwungen Rangi sich verhielt, wie es ihr gelang, einfach dort anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatten. »Und wer ist nun dieser Dairin?«, fragte Kyoshi. »Ich dachte, es gäbe in der Feuernation einen speziellen Minister, der für die Beziehungen zum Avatar zuständig ist.«
»Eigentlich ist das auch so. Ich weiß nicht, warum nur Dairin geschickt wurde, um dich zu begrüßen. Vielleicht hat Lord Zoryu irgendwelche Probleme mit seiner Dienerschaft, aber ich trau mich nicht zu fragen. Dank meiner Verbindung zu dir hab ich hier ein paar Privilegien, aber in Wirklichkeit bin ich im Palast nur eine Oberleutnantin.«
Kyoshi musste beinahe lachen. »Nur« eine Leutnantin, ein Rang, nach dem viele Erwachsene in der Feuernation vergeblich strebten. Rangis auf so beiläufige Weise überambitioniertes Wesen war eines der vielen kleinen Dinge, die Kyoshi an ihr vermisst hatte.
»Erzähl mir von deinem Sekretär.« Rangi machte eine Kopfbewegung in Jinpas Richtung.
Was gab es da zu erzählen? »Er ist in irgendeinem geheimen Pai-Sho-Klub und manchmal verhält er sich völlig anders als andere Luftnomaden. Ich werde noch nicht so recht schlau aus ihm. Aber er hat mir bisher gut …«
»Und nun gelangen wir zur Königlichen Porträtgalerie«, sagte Dairin laut und blieb abrupt stehen.
Kyoshi wäre um ein Haar mit ihm und Jinpa zusammengestoßen. Rangi konnte sie gerade noch an der Rückseite ihrer Tunika festhalten. Sie stellte sich vor, wie sich diese Neuigkeit in der Feuernation verbreitet hätte: Der Avatar hat seine gesamte Entourage beim Palastrundgang umgekegelt .
Der Kanzler hatte jedoch nicht bemerkt, dass er beinahe niedergetrampelt worden wäre. Voller Stolz blickte er an den Wänden empor. »Ich könnte Tage hier verbringen und würde es nicht müde«, seufzte er schwärmerisch.
Die Galerie hatte seine Verehrung durchaus verdient: Sie gehörte zu den beeindruckendsten von Menschenhand errichteten Werken, die sie bisher gesehen hatte. Gemälde der Feuerlords zierten die eine Seite, sie reichten vom Boden bis zur Decke und waren dreimal so groß wie ihre lebendigen Vorbilder. In rot-schwarzer Gewandung und von goldenem Glorienschein umgeben blickten die Herrscher der Feuernation wie ein Geschlecht von Riesen auf ihr Publikum herab.
Obwohl es ihr erster Besuch hier war, erkannte Kyoshi sofort, dass jedes Porträt Jahre an Arbeit gekostet haben musste, vielleicht sogar das Werk einer ganzen Künstlerlaufbahn war. Das Porträt des verstorbenen Feuerlords Chaeryu, das jüngste Werk der Galerie, war noch nicht vollendet. Vorzeichnungen im Hintergrund des Bildes, in der Nähe der Füße, warteten darauf, mit Goldeinlegearbeiten und Orangetönen gefüllt zu werden.
Rangi stupste sie an und zeigte zur anderen Seite der Galerie. Den Feuerlords gegenüber standen die Feueravatare, in entsprechender Größe und Pracht gemalt und ebenso atemberaubend in ihrer künstlerischen Herrlichkeit. Zwischen diesen Porträts gab es mehr Platz. Es kam grob ein Avatar auf vier Feuerlords und die Lücken waren nicht ganz ebenmäßig, was Kyoshi darauf schließen ließ, dass die Bildnisse ihrer Vorläufer eine Chronik abbildeten, die sich durch die Halle erstreckte.
Vor Avatar Szeto blieb die Besuchergruppe stehen. Auf dem Porträt trug er sein Markenzeichen: seinen hohen Ministerhut. Im Gegensatz zu den meisten anderen Figuren, Feuerlords wie Avataren, ließ er keinen Feuerball über seiner Handfläche schweben, sondern hielt einen Abakus empor, der ebenso liebevoll ausgearbeitet war wie all die abgebildeten Flammen oder Waffen, die seine Landsleute führten. Das Rechenwerkzeug war mit echten Perlen versehen und das Rechenergebnis zeigte eine Zahl, die Glück verheißen sollte.
In der anderen Hand hielt er einen Stempel: Der Künstler hatte sich die Freiheit genommen, ihn riesengroß zu machen. Es war unwahrscheinlich, dass der echte Stempel derart gigantisch oder aus solidem Zinnober gewesen war, wie es das Bild zeigte: Szeto hätte jedes Schriftstück, das er bewilligen wollte, von oben bis unten zugestempelt.
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