Margaret Moss mühte sich mit der Rolle der Elly ab. Am meisten graute ihr vor dem letzten Akt, denn dort hatte sie eine kleine Solonummer direkt vor dem Finale, die in einer Kombination von Schritten enden sollte, bei der sie jedesmal durcheinanderkam. Sie übte abends zu Hause, murmelte völlig außer Atem ihr »Eins, zwei und drei« vor sich hin, während sie sich ruckweise über den Wohnzimmerboden bewegte. Tante Maisen beschwerte sich: Die Glasprismen ihres Kronleuchters klirrten, und im Schlot löste sich Ruß, der in den Kamin hinunterfiel.
Margaret schaffte es kaum, an Carl Meyer zu denken. Sein bleiches Gesicht und sein ferner Blick strichen einige Male in der Woche an ihr vorbei, ohne daß er jemals stehengeblieben wäre, um mit ihr zu sprechen.
Eines Tages, als sie wenig Zeit und keine Lust hatte, auf den Fahrstuhl zu warten, lief sie die enge, dunkle Hintertreppe hinunter. Da überraschte sie zwei, die vollauf mit sich beschäftigt waren: Siv saß auf der Treppe und weinte, Jan Vogt Johansen stand über sie gebeugt – ob er sie tröstete oder zurechtwies, konnte Margaret nicht ausmachen. Sie sagte nur: »Oh, Entschuldigung«, lief weiter und dachte sich, daß es dann wohl Jan sein mußte, den Siv liebte. Oder vielleicht auch nicht, sie dachte nicht weiter darüber nach, denn sie wurde von der »Quasselbox« ausgerufen – so nannten sie die Lautsprecheranlage, die das ganze Theater erfaßte, den Zuschauerraum ausgenommen. Eine Szene sollte wiederholt werden.
Und schließlich fand die Premiere von ›Crazy ’Bout My Baby‹ statt.
Die Rezensionen waren positiv, nur ›Dagbladet‹ übte Kritik: »Alte Takte im ›Odeon‹«, war zu lesen. »Lita Thue strahlte wie immer«, schrieb ›Aftenposten‹. »Das übertrifft die alten Musicals um Längen!« In ›Verdens Gang‹ erhielt das Stück fünf von sechs Punkten auf der Bewertungsskala. Die Tänzer wurden gelobt und Margaret Moss immerhin nicht bloßgestellt. Sie wurde nicht einmal erwähnt, worüber sie sehr erleichtert war.
Nun lief das Stück schon in der zweiten Woche, und im Vorverkauf wurden bereits Karten für die Vorstellungen im April reserviert. Meyer bekam wieder Farbe ins Gesicht, rieb sich die Hände und sprach sogar mehrere Sätze nacheinander: »Hab ich’s nicht gesagt! Ein echtes, altmodisches Musical hat das Publikum noch immer angelockt!«
Die Stimmung hinter der Bühne stieg in jeder Hinsicht, denn es war ein schönes Gefühl, am Erfolg teilzuhaben. Schmerzende Muskeln, entzündete Hälse und Blasen waren vergessen – es wurde getanzt, daß das »Odeon« nur so bebte, wenn sie im Finale auf der Bühne so richtig in Fahrt kamen.
Lita Thue war in unverschämt guter Form.
Margaret war auf dem Weg zum Theater, die blaue Dämmerung stieg schon zwischen den Bäumen des Westfriedhofs auf. Im Mittelgang der Straßenbahn war es dreckig. Margaret gähnte lange, ein unbestimmtes Gefühl im Zwerchfell signalisierte ihr, daß sie auf dem besten Wege war, depressiv zu werden. Sie seufzte. Der Gedanke, bis weit in den Sommer hinein am »Odeon« zu spielen, war nicht gerade aufmunternd. Sie hatte zwar ihr Auskommen, doch die Rolle war anstrengend, obgleich sie ja eher unbedeutend war. Außerdem war sie in ihrer Spioniererei für Carl Meyer nicht so recht vorangekommen, eine Tatsache, die er allerdings zu übersehen schien. »Ja, ja«, hatte er gesagt und ihr auf die Schulter geklopft, als sie mit ihm darüber sprechen wollte. »Das ist schon in Ordnung. Mach du einfach deinen Job als Elly.«
Sie seufzte wieder, und das Alter ego meldete sich mit seiner hartgesottensten Stimme: Tja, Moss, das ist mal wieder ein Tag, der wie eine Ewigkeit scheint, wenn der Kaffee nach Arsen schmeckt, die Vögel tot zu Boden fallen und die Kolsås-Bahn Geräusche von sich gibt wie ein strangulierter Mörder ... Nein, das ist dann doch etwas übertrieben, dachte Margaret. Jetzt muß ich mich zusammenreißen.
Roland hatte sich noch immer nicht wieder gemeldet.
Um halb sieben saß sie in der Garderobe und rollte mühsam eine Haarsträhne nach der anderen in kleine Löckchen, die sie mit Spangen befestigte, bevor sie einen alten, abgeschnittenen Nylonstrumpf über die Haare zog. Mit der Perücke wartete sie noch ein wenig, denn die lag eng am Kopf und war so schrecklich warm.
Mit routinierten Bewegungen legte sie die Schminke auf Hals und Gesicht.
Es war schon merkwürdig, wie schnell das alles wieder zur Gewohnheit geworden war, das Schminken und das Warten, bis der Vorhang sich öffnete.
Sie nahm den Fahrstuhl nach unten, als sie fertig war. Sie lag gut in der Zeit und hatte auch das Gefühl, diese Zeit zu brauchen. Stian Sondresen hockte in seiner kleinen Inspizientenbox und zog an einem Stecker. »Der ist verdammt lose«, sagte er zu sich selbst. Dann entdeckte er Margaret. »Kein Wunder, daß die Polizeisirene gestern nicht richtig funktioniert hat.«
Er erhob sich und sprach über ein Mischpult mit Unmengen von Hebeln hinweg in sein Mikrofon: »Noch dreißig Minuten bis ›Crazy ’Bout My Babys noch dreißig Minuten!«
Dann setzte er sich hin und blickte Margaret an. Er war derselbe nette Junge, der er immer gewesen war, mit Ohrring im einen Ohr und einer Neigung zu ungewöhnlichen T-Shirts. Margaret hatte viel mit ihm geredet seit dem Treffen, doch es schien nicht so, als hätte er inzwischen mehr in der Hinterhand als Verdächtigungen und Gerüchte. Sie holte sich einen wackligen Stuhl und sah zu, während er den üblichen Arbeitsablauf vor der Vorstellung erledigte und sich seine Notizen machte.
Er drehte den Stuhl zu ihr um und erkundigte sich: »Und? Wie läuft’s mit dem Steptanz?«
»Ganz gut«, antwortete Margaret. »Und wie geht’s dir so?«
»Auch ganz gut«, sagte Stian. Er hob die Hand und stellte für einen kurzen Augenblick den Lautsprecher aus dem Foyer an: Es wurde dort draußen geredet und gelacht, das Theater füllte sich. »Volles Haus bis zum ersten Mai«, sagte er. Sie beobachteten beide den kleinen Bildschirm an der Decke, der den Zuschauerraum zeigte. Die ersten Zuschauer hatten schon Platz genommen und blätterten in ihren Programmen. »Noch fünfzehn Minuten«, sagte Stian ins Mikrofon. Über die Anlage erreichten die Anweisungen den ganzen Bühnenraum, die Garderoben, die Kantine, den Probensaal und den Schminkraum. Dann stellte er das Gerät ab. »Verdammt! Ernst ist nicht an seinem Platz.«
Er stand auf und war in wenigen Schritten hinter der Bühne, wo er den Bühnenmeister am Ärmel packte und etwas zu ihm sagte. Hinter ihnen stand Lita Thue in ihrem Kostüm, schweigend und in sich selbst vertieft, mit einem Mantel über den Schultern. Sie ging tief in die Knie und streckte sich wieder. Ihre Ankleiderin stand hinter ihr, brachte schnell eine Haarlocke an den richtigen Platz und fixierte mit Haarspray. Die Tänzerinnen und Tänzer waren noch nicht zu sehen, denn sie hatten ihren Auftritt erst in der nächsten Szene.
Margaret blickte durch das geschwärzte Glas in den leeren Bühnenraum: In Loretta Coles Garderobe des Revuetheaters von 1926 war alles an seinem Platz, und es fehlte weder die Straußenfederboa auf dem Stuhl noch die Korbtruhe, in der sich der Gangsterkönig Johnny DeVito auf seiner Flucht vor der Polizei verstecken würde.
Drüben neben der Bühne, in dem schmalen Gang, den sie den »Zuggang« nannten, sah sie Stian gestikulieren und mit zwei Bühnenarbeitern sprechen; die schweren Taue, die sogenannten Züge, mit denen sich alle Kulissenteile steuern ließen, die vom Schnürboden herunterhingen, verliefen über seinem Kopf. In der Inspizientenbox, in der sie saß, hörte sie plötzlich die Stimme des Beleuchtungsinspektors: »Da fehlt ein Scheinwerfer auf der Beleuchtungsbrücke!«
Margaret beugte sich vor und sagte ins Mikrofon: »Im Moment fehlt hier auch ein Inspizient. Aber ich gebe ihm Bescheid.«
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