Roman
Aus dem Norwegischen
von Maike Dörries
Saga
Hoch oben am Hang über der stark befahrenen Fernstraße thronte ein altes Haus mit Erkern und Türmen. Es machte einen herrschaftlichen Eindruck, aber bei näherer Betrachtung konnte man sehen, wie verfallen es war. Die Dachrinnen waren durchgerostet, die Farbe an der Südfassade blätterte ab, etliche Fensterscheiben hatten Sprünge und auf dem Dach fehlten ein paar Ziegel.
Um den Garten war es auch nicht besser bestellt. Die Stämme der Apfelbäume waren von einer grünen Moosschicht überzogen und voll mit wuchernden Trieben. Auf den Kieswegen verdrängte eine Generation Unkraut die nächste.
Es war offensichtlich, dass dieses Haus nicht mehr bewohnt wurde. Jedenfalls nicht von Menschen. Tiere gab es dort mehr als genug. Im Frühling drängten sich gurrende Tauben auf dem Dach und den Simsen. In langen Winternächten nagten Mäuse Tapetenleim von den Wänden, und draußen im Garten unter dem halb eingestürzten Schuppen, in dem früher einmal die Spaten und Harken untergebracht waren, lebte ein Dachs.
Manchmal meinten die Nachbarn, Licht hinter den Fenstern zu sehen, aber das bildeten sie sich wahrscheinlich nur ein. Sicher waren das nur die starken Scheinwerfer der Autos unten auf der Fernstraße, die sich in den Scheiben spiegelten, man täuschte sich so schnell.
Das Haus schlief tief und fest.
Oder?
Es war ein verhangener Spätwintertag. Die E 18 zwischen Lysaker und Oslo Zentrum war schneematsch- und salzverschmiert, es dämmerte bereits, obwohl es erst vier Uhr war. Henny und Lotte waren mit dem Bus in die Stadt unterwegs. Lotte wollte ein Paar Schuhe kaufen und hinterher würden sie sich noch einen Hamburger genehmigen.
Falls vom Schuhgeld etwas übrig blieb.
»Klar bleibt was übrig«, sagte Lotte. »So teure Schuhe will ich nun auch wieder nicht kaufen.«
»Ha, ich kenn dich doch«, murmelte Henny, den Blick auf den schmuddeligen Schneematsch am Randstreifen geheftet, der vor der Scheibe an ihnen vorbeizog. Sie kannte Lotte seit der Vorschule und hatte noch nie erlebt, dass Lotte irgendetwas tat, das kein Geld kostete.
Viel Geld.
»Pff«, sagte Lotte und machte eine Blase mit dem Kaugummi. Es gab ein schmatzendes Geräusch, als die Blase zerplatzte und an ihrer Oberlippe hängen blieb. »Da, das Geisterhaus.«
Der Bus fuhr unterhalb einer hohen Mauer mit einem stellenweise arg baufälligen Zaun vorbei. Sie mussten den Kopf in den Nacken legen, um etwas erkennen zu können, aber hinter den Bäumen war nur der Hausgiebel zu sehen. »Erinnerst du dich noch an die Geschichte, die wir uns ausgedacht haben?«, fragte Lotte und zupfte sich den Kaugummi von der Lippe. »Wie haben wir das Mädchen noch genannt, das dort wohnen sollte?«
»Roselill«, sagte Henny.
Sie wollte nicht darüber reden. Es kam immer noch vor, dass sie nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, an das Geisterhaus dachte. Dann sah sie sich über den Gartenweg auf das gewaltige Haus mit seinen Erkern und Vorbauten zugehen, hinter dessen Fenstern der Schatten der unglücklichen Roselill vorbeiglitt.
Henny drehte den Kopf und sah auf der anderen Seite aus dem Busfenster aufs Wasser hinaus. Sie wollte nicht mit Lotte darüber sprechen. Lotte konnte solche Gedanken nicht nachvollziehen.
Plötzlich überkam sie eine richtige Abneigung gegen ihre Freundin. Es gab immer mehr Dinge, über die sie nicht mehr mit ihr reden konnte, obwohl sie beide beste Freundinnen waren, seit sie denken konnte. Aber Lotte war irgendwie so — durchschnittlich geworden. Über Dinge, die sie nicht verstand, machte sie sich lustig. Sie war genau wie ihre Mutter, die ständig die Tür zu Lottes Zimmer aufriss und rief: »Na, Mädels, wollt ihr bei dem schönen Wetter nicht lieber an die frische Luft gehen?«
Egal, ob es regnete oder die Sonne schien.
Lotte und ihre Mutter sahen sich extrem ähnlich, sie waren beide klein, schlank und dunkelhaarig und hatten braune Augen.
Henny war größer als Lotte und blond. In der fünften Klasse hatten ein paar Jungen ihnen den Spitznamen Dick und Doof gegeben.
Der Bus kam schnaufend zum Stehen, die Türen gingen zischend auf. Ein kalter Windzug mit einer Duftmischung aus Abgasen und Seeluft strömte durch den Mittelgang. Zwei Jungen stiegen ein und kramten in ihren Taschen nach Kleingeld.
Lotte boxte Henny in die Seite. Henny schluckte und hatte das Gefühl, hellseherische Fähigkeiten zu besitzen. Das waren nämlich Emil und Lasse, genau die beiden Jungen, die ihnen in der Fünften ihre Spitznamen verpasst hatten. Inzwischen waren sie alle in der Mittelstufe, wenn auch nicht mehr in derselben Klasse.
Emil und Lasse schlitterten auf sie zu, als der Bus anfuhr, und konnten sich gerade noch auf die Sitze vor ihnen werfen, bevor sie beinahe der Länge nach hingefallen wären. »Wo kommt ihr denn her?«, fragte Lotte neugierig wie immer und machte eine neue Kaugummiblase.
»Lasse hat sich ein Fahrrad angesehen«, sagte Emil, zog die Nase hoch und strich sich mit der Hand über die kurzen Haare. Henny sah ihn an. Das machte er dauernd!
Schnief! Und dann einmal mit der Hand über die Borsten.
Seine Haare, die er früher halblang in einer undefinierbaren Frisur getragen hatte, standen jetzt nach oben. Henny musterte ihn interessiert. Die Haare sahen gar nicht so borstig aus, eher weich, und seine tiefen Grübchen fand sie auch nicht schlecht.
Letzte Woche hatte er einen Schneeball hinter ihr hergeworfen. Einen schlappen Ball, locker aus dem Handgelenk, nur um sie zu ärgern. Sie hatte den Schneeball kommen sehen und sich geduckt, dabei war ihre Mütze heruntergerutscht. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte er direkt hinter ihr gestanden. Da hatte sie zum ersten Mal gesehen, wie er sich über die Stoppeln strich, und bemerkt, dass er Grübchen hatte, wenn er lachte. Das war ihr vorher noch nie aufgefallen.
Sie hatte am Wochenende ein paar Mal an ihn gedacht und sich einen kleinen Tagtraum zusammengesponnen. Am Ende war er so wirklich geworden, dass sie am Montag, als ihre und Emils Blicke sich trafen, knallrot geworden war.
»Bin ich rot?«, hatte sie Lotte zugeflüstert.
»Ein bisschen. Wieso?«
»Ach, mir ist so warm«, hatte sie geantwortet.
Und jetzt war er hier, in diesem Bus.
Henny hob die Hand, wickelte eine Haarsträhne um den Finger und schaute aus dem Fenster.
»Warum fummelst du eigentlich immer an deinem Haar rum?«, fragte Emil. Er hatte sich zu ihnen umgedreht, das Kinn auf die Rückenlehne gelegt und sah sie interessiert an.
»Ööh«, sagte sie und zwirbelte die Haarsträhne vor lauter Aufregung noch fester um den Finger. Als sie es merkte, ließ sie ihre Haare schnell los, drehte sich zur Seite und sah wieder aus dem Fenster.
Wie peinlich!
»Willst du dir ein Rad kaufen?«, fragte Lotte und sah Lasse an.
»Nein. Mein Bruder braucht eins. In der Zeitung war ein gut erhaltenes Jungenrad inseriert. Aber das Rad war die reinste Schrottkarre. Und dann auch noch zu groß. Mein Bruder ist gerade mal sieben.«
»Das war übrigens ganz in der Nähe von diesem großen, alten Haus, das schon seit Ewigkeiten leer steht«, sagte Emil.
»Dem Geisterhaus?«, fragte Lotte und Henny stöhnte innerlich. In dem Augenblick bremste der Bus abrupt vor einer roten Ampel in der Bygdøy Allee, und Lasse, der nur mit einer Pobacke auf der Sitzkante saß, wäre fast heruntergerutscht.
»He, pass doch auf!«, rief er dem Fahrer wütend zu, aber der hatte das Radio laufen und darüber hinaus die Nase gestrichen voll von Schülern und alten Frauen und tat, als würde er nichts hören.
»Und wohin seid ihr unterwegs?«, fragte Emil. Henny war erleichtert, dass keiner der beiden mitbekommen zu haben schien, was Lotte gesagt hatte.
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