»Also, jetzt hör mal auf!« sagt Henny. »Ich hatte schon Rückenschmerzen, als ich noch auf der Schauspielschule war. Herrgott, das hat doch mit dem Alter nichts zu tun ...« Margaret unterbricht sie: »Ich fühle mich ausgeschlossen. So sieht’s aus. Das mit dem Rücken ist wohl nur ... ach, ich weiß auch nicht. Es ist Ewigkeiten her, daß ich zuletzt in einem Theaterensemble gearbeitet habe, und das merke ich einfach. Und ihr merkt es auch, da brauchst du mir nichts vorzumachen! Sobald ich dazukomme, unterbrecht ihr eure Gespräche.«
Sie beißt sich auf die Lippe und sieht Henny prüfend an. Nimmt sie ihr das ab? Offenbar, denn sie sagt mit großen, funkelnden Augen: »Ach, Margaret! Also, das ist so ... weißt du ...«
»Nein«, sagt Margaret gnadenlos, denn sie hat schließlich nicht alle Zeit der Welt.
»Also«, sagt Henny Haraldsen leise und schaut sich schnell um, »die Stimmung ist hier zur Zeit ein bißchen komisch. Carl ... na ja, ziemlich viele von uns sind der Meinung, daß er lieber zurücktreten sollte.«
»Aha«, sagt Margaret und ertappt sich dabei, daß sie sehr distanziert klingt. »Doch, das verstehe ich. Er ist ja ziemlich merkwürdig geworden. So war er früher nie.«
»Nein«, sagt Henny und blickt sich wieder umher. »Er ...« Sie wird unterbrochen.
Vebjørn Smien hat seine Stimme erhoben: »Gut, dann halten wir mal fest: Es ist so weit schon ganz gut, aber wir müssen jetzt dafür sorgen, daß die Stimmung ein bißchen steigt. Das ist ja wie auf einer Trauerfeier hier! Wir brauchen verdammt noch mal mehr Energie, Jan! Und hör mal, Willy, deine Bewegungen müssen schneller werden!«
Willy tritt ganz dicht an Smien heran und sagt ihm mit lauter und drohender Stimme direkt ins Gesicht: »Gib du mir erst mal mehr Energie, dann werde ich schon verdammt noch mal schneller werden!«
Alle lachen, die Tänzerinnen und Tänzer, die Bühnenarbeiter.
»Mittagspause!« ruft Vebjørn Smien.
Der Lärmpegel in der kleinen Kantine ist so hoch, daß er wahrscheinlich von der Arbeitsschutzkommission verboten werden würde, und zwischen den Tischen ist es so eng, daß Margaret, die nur eben zur Theke gegangen ist, um Kaffee zu holen, sich kaum zum Tisch an der Wand durchschlängeln kann, wo Henny ihr einen Platz freigehalten hat. Sie setzt sich und holt aus ihrer Tasche eine Mohrrübe und zwei Scheiben Vollkornbrot mit Kaviar heraus. Sie ist so hungrig, daß es eigentlich ganz lecker aussieht, allerdings nur, solange sie die Augen von Hennys Kopenhagener läßt und ihren Geruchssinn abstellt, denn hinter der Theke werden gerade Frikadellen aufgewärmt.
Sie beugt sich zu Henny hinüber, es ist ein kleiner, runder Tisch mit nur zwei Stühlen, und der Lärm um sie herum wirkt wie ein Schutzschirm, deshalb ergreift sie die Gelegenheit und sagt: »Er macht seine Arbeit schlecht, oder?«
Henny sieht sie mit Puderzucker auf der Oberlippe an, dann versteht sie, was Margaret meint, leckt sich die Lippen und nickt langsam. »Das meinen sie jedenfalls«, sagt sie, und Margaret fragt: »Geht es dabei nur um die Finanzen oder ums Ganze, ums Repertoire und überhaupt?«
»Ums Ganze«, sagt Henny und schaut sich schnell um. Lita sitzt ein paar Tische weiter weg und löffelt Hüttenkäse, am selben Tisch wie Vidar Holm, der den Polizeiinspektor Tate spielt. Sie unterhalten sich, das heißt, Vidar Holm redet, und Lita hört zu. Carl ißt für gewöhnlich nicht in der Kantine, das hat Margaret herausgefunden. Sie sieht, daß sich seine Frau Siv, bleich wie immer, zu den Tänzerinnen gesellt hat. Dort sitzt sie, zerkrümelt ein Brötchen und starrt ins Leere.
Margaret ißt ihre Mohrrübe und trinkt Magermilch. Sie muß noch ein paar Kilo abnehmen, wenn sie das Finale gut überstehen will. Eine der Tänzerinnen beugt sich plötzlich über den Tisch, an dem sie sitzt, legt die Stirn auf die kalte Tischplatte und sagt so laut, daß man es im ganzen Raum hören kann: »Oh, ich wünschte, ich könnte eine ganze Tonne Nudeln essen!«
»Amen«, sagt Margaret und knüllt das Butterbrotpapier zusammen.
Jan Vogt Johansen kommt zusammen mit Smien herein, und sie setzen sich zu den Tänzerinnen. Henny folgt Margarets Blick. »Da ist ja auch Siv«, sagt sie leise.
»Siv?«
»Ja.«
Henny schweigt. Margaret sagt prüfend: »Sie und Carl sind wohl ... ich finde, sie wirkt nicht besonders glücklich, oder?«
Wer tut das schon, Moss, wer tut das schon, sagt das unermüdliche Alter ego, doch Margaret entschließt sich, es zu überhören, und blickt Henny an.
»Das ist sie wohl auch nicht«, sagt Henny, sammelt die Kuchenkrümel auf ihrem Teller zusammen und leckt die Finger ab. »Sie liebt einen anderen.«
Ihre großen Augen sind voller Mitgefühl.
»Weißt du, wer es ist?«
Henny schüttelt langsam den Kopf. »Keiner von uns weiß es, aber es ist jedenfalls so. Sie hat es selbst erzählt.«
»Aha«, sagt Margaret und fühlt sich plötzlich so alt, wie sie es vorhin Henny gegenüber gespielt hat.
Das Wochenende verbrachte sie mit Radfahren auf dem Heimtrainer und Abwaschen der Küchenwände. Letzteres ziemlich unfreiwillig. Die patente Margaret Moss hatte den Korkenzieher nicht finden können, als sie am späten Samstagabend eine Flasche Rotwein öffnen wollte. Statt dessen hatte sie probiert, einen Schraubenzieher von oben gegen den Korken zu pressen und dann mit dem größten Hammer, den sie hatte finden können, auf den Griff des Schraubenziehers einzuschlagen. So etwas sollte man nicht tun, die Küche sieht danach aus wie ein Schlachthaus. Doch am Montag begann eine neue Woche, mit ein wenig Schnee in der Luft, weiteren Proben für ›Crazy‹ und dem abendlichen Treffen des Ensembles.
Es fand statt – wenn nicht im geheimen, so doch in aller Diskretion –, und zwar zu Hause bei einem der Inspizienten, Stian Sondresen.
Er wohnte in einer vormals eleganten Wohnung hinter dem Schloß, mit einer Deckenhöhe von fünf Metern und Stuckrosetten. Inzwischen erweckte sie zwar eher den Eindruck eines Flohmarktes, doch es brannte ein prächtiges, großes Feuer im Kamin, und die Sofas waren tief und gemütlich. Stian hatte Wein gekauft und Pizza bestellt, doch zunächst sollte es Kaffee und ernsthafte Gespräche geben.
Der Gastgeber selbst eröffnete die Sitzung. Margaret dachte bei sich, daß er vielleicht auch der Initiator gewesen war. Er war jünger als sie, doch sie kannte ihn ein wenig aus ihrer Zeit am Nationaltheater. Er hatte ganz unten angefangen, ein umgänglicher und netter Kerl, der nicht nur sein Handwerk verstand, sondern auch mal eine defekte Leitung reparieren konnte, wenn es nötig war. Jetzt war er seit zwölf Jahren am »Odeon«, acht davon als Inspizient.
Er erhob sich und ging zum Kaminsims, stützte sich mit den Ellbogen auf und sah sich in der Runde um. Sie waren insgesamt zehn. Zwei der Bühnenarbeiter waren gekommen, der Beleuchter Ernst Vogeler, ein schmaler und ruhiger Österreicher, und ein Bühnenarbeiter, den sie aus unerfindlichen Gründen Hölle nannten, ein stämmiger Kerl mit rotem Vollbart.
Lita Thue war nicht da, ebensowenig Siv. Margaret fragte sich, ob man sie mit Absicht aus der Sache heraushielt oder ob sie einfach abgesagt hatten. Gekommen war hier offenbar nur der harte Kern. Und es war ihr aufgefallen, daß Vebjørn Smien gekommen war; er sah müde aus, saß und drehte seinen Kaffeebecher zwischen den Händen und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.
»Ja«, sagte Stian Sondresen und räusperte sich. »Dann fangen wir jetzt wohl an.«
Eine Stunde später war die Luft grau vor Zigarettenrauch.
Margaret saß auf dem Sofa zwischen Henny und einer kleinen Tänzerin namens Rikke; ihr brannten die Augen, und der Rücken tat weh – die tiefen Sofas waren einfach nicht gut. Es hat eben doch seine Gründe, wenn Leute sich von ihren Möbeln trennen und sie auf dem Flohmarkt verkaufen.
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