Sie drehte sich in der Badewanne um und stöhnte. Sogar unter Wasser spürte sie, wie die Muskeln schmerzten. Dann richtete sie sich auf, räusperte sich und begann probehalber zu singen – zuerst leise und mit dünner Stimme, dann kräftiger. »Denken Sie an Ihre Nase«, hatte ihre Gesangslehrerin in der Schauspielschule gesagt. »Schicken Sie Ihre Stimme hinauf durch die Nase!« Und Privatdetektivin Moss sang aus voller Brust und mit annähernd korrekter Atmung ›Solveigs Lied‹ von Edvard Grieg, und sehr zufrieden mit ihrer Leistung begann sie nach der Hälfte des Liedes wieder von vorne, weil sie sich an den Schluß nicht mehr erinnern konnte. Der Winter mag scheiden, der Frühling vergeh’n, der Sommer mag welken, das Jahr verweh’n, du kehrest mir zurücke, gewiß, du wirst mein, ich hab’ es versprochen, ich harre treulich dein ...
Plötzlich unterbrach sie ihren Gesang. Das Telefon klingelte.
Ich gehe nicht ran, dachte sie. Vielleicht ist es Roland, dachte sie dann.
Mit einem Ruck kletterte sie aus der Badewanne, daß der Schaum nur so spritzte, riß die Tür auf und rauschte durch den Flur ins Wohnzimmer. Als sie gerade den Hörer abnahm, klickte es am anderen Ende der Leitung.
Sie blieb stehen und wartete, vielleicht hatte er ja gehört, daß sie ans Telefon gegangen war, und versuchte es noch einmal.
Nichts passierte. Draußen rasselte die Østerås-Bahn auf ihrem Weg zur Station Smestad vorbei, und unten brach plötzlich das ›Frühlingsrauschen‹ los; Tante Maisen spielte Klavier, wie sie Auto fuhr – ruckweise.
Der Schaum trocknete langsam auf dem Rücken, Margaret ging zurück und legte sich wieder in die Badewanne.
Das Portweinglas war erstaunlicherweise unbeschadet stehengeblieben, es stand auf der äußersten Kante der Badewanne. Margaret leerte es und stellte es auf den Boden, dann tauchte sie noch einmal tief in das warme Wasser.
Roland hatte sich seit dem Anruf bei Tante Maisen nicht wieder gemeldet, und Margaret wollte nicht in seinem Haus in Prinsdal im Südosten der Stadt anrufen.
Irgendwo hatte sie die Telefonnummer zu seinem Mobiltelefon, aber ...
Es war ja auch gar nicht sicher, daß er etwas von ihr wollte. Vielleicht hatte er sie auch nur irgend etwas fragen wollen. Er hatte sie immer damit aufgezogen, daß er sie anrufen würde, wenn er etwas wissen wollte – denn sie war ja schließlich bei der Polizei gewesen und kannte die Tricks, hatte er gemeint. Als ob sie irgendwelche Tricks kennen würde! Kurz war sie dort gewesen, und wenig hatte sie gelernt. Am ehesten erinnerte sie sich noch an den bitteren Kaffee und an ihren Vorgesetzten, den sie nie besonders gut hatte leiden können.
Er hatte sie auch nicht gemocht. Er konnte einfach nicht damit umgehen, daß sie früher einmal politisch aktiv gewesen war, und zwar ausgerechnet bei den Linken. Jedesmal, wenn in der linken Hausbesetzerszene in Pilestredet wieder einmal etwas los war, hatte er sie mit Dreck beworfen.
Vielleicht war Roland mit den Kollegen von der Verkehrspolizei zusammengestoßen. Oder er brauchte den Namen von jemandem aus dem Bootsregister. Oder vielleicht war er mit der Rauschgiftfahndung aneinandergeraten.
Nein, letzteres bestimmt nicht! Nicht Roland Rud aus den großen Wäldern, der mit seinem Pferdeschwanz so anziehend auf die Damenwelt wirkte, nicht Roland, der Ritter der Landstraße.
Sie hatte doch irgendwo die Nummer von seinem Mobiltelefon, oder?
Doch Maisen hatte schließlich ausdrücklich gesagt, daß er sie nicht um einen Rückruf gebeten hatte.
Alles klar, hatte er bloß gesagt, als er gehört hatte, daß sie nicht zu Hause war. Und dann hatte er aufgelegt.
»Alles klar« – was sollte das eigentlich heißen, verdammt?
In diesem Moment klingelte das Telefon wieder, und noch bevor das erste Klingeln vorbei war, war Margaret aus der Wanne gesprungen und unterwegs durch den Flur. Sie lief über den Fußboden im Wohnzimmer, wobei ihr das Herz bis zum Hals schlug, sie stolperte über den Teppich, den sie beiseite gerollt hatte, um Platz für den Heimtrainer zu schaffen, fiel beinahe hin und stieß sich an der Ecke des Tischs, bevor sie den Hörer hochriß und rief: »Ja, ja, verdammt!«
Es war nicht Roland. Es war Karen.
»Hör mal, das ist echt nicht die netteste Art, von seiner Mutter begrüßt zu werden«, sagte die Tochter mit dünner Stimme. Margaret schluckte. »Ach, Karen«, sagte sie. »Ich dachte, es wäre jemand anders. Wie geht’s dir?«
»Ach, ganz gut«, erwiderte Karen. »Hier schneit es gerade.«
»Wirklich? Schneit es bei euch? Hier regnet es nämlich.«
Es wurde still in der Leitung, und Margaret dachte sofort: Sie ist unglücklich und bringt es nicht fertig zu sagen, was los ist. Sie wartete. Das Herz pochte noch immer heftig.
»Ach nee, eigentlich ist nichts Besonderes, ich wollte nur mal reden.«
»Ja«, sagte Margaret, und es war wieder still. Margaret blickte bekümmert vor sich hin.
Dann erzählte sie schnell und mit gespielter Fröhlichkeit von ihrem neuen Auftrag.
»Super, total witzig!« sagte Karen. »Da komme ich nach Oslo und schau dir zu. Besonders bei der Stepeinlage!«
Margaret spürte auf einmal mit ihrem ganzen Körper die vielen Kilometer, die sie und ihre siebzehnjährige Tochter mit den grüngefärbten Haaren trennten, und sie fragte: »Kannst du nicht dieses Wochenende nach Hause kommen?«
Karen zögerte etwas, und es rauschte in der Leitung. »Also, wenn hier etwas abgeht, dann ist das samstags, verstehst du?« sagte sie. »Aber nächstes Wochenende vielleicht.«
»Ja«, sagte Margaret.
Als sie auflegte, fror sie so, daß sie mit den Zähnen klapperte, und sie rubbelte sich lange ab, um wieder warm zu werden.
She’s not there.
Rod Argent
Es ist Dezember, und Schneeregen liegt in der Luft. Noch ist etwas Zeit bis Weihnachten, und über dem Eingang des Theaters leuchtet inzwischen nicht mehr der Titel des Stücks ›Paris! Paris!‹. Die Plakate werben jetzt für eine Kindervorstellung (›Die Kinder aus der Krachmacherstraße‹) und zwei Einakter von Strindberg, für die das Theater in der vorigen Spielzeit viel Lob eingeheimst hat. Zur Zeit werden alle Kräfte für die Proben am Großprojekt ›Crazy ’Bout My Baby‹ gebraucht, eine in jeder Hinsicht teure Inszenierung. Es ist kurz nach zwölf, die Arbeit auf der Bühne ist schon seit einer Stunde im Gange, die Bühnenbeleuchtung ist angeschaltet, doch der Zuschauerraum ist dunkel. Man probt die erste Szene des zweiten Akts; Regisseur Vebjørn Smien sitzt in der dritten Reihe des Parketts, neben ihm eine runde, kleine Dame mit rotem, fülligem Haar und Hornbrille. Die Leselampe an ihrem Pult ist angeschaltet, und vor ihr stehen zwei halbvolle Becher Kaffee, von denen der eine Smien gehört. Ganz rechts in der ersten Reihe sitzt die Souffleuse mit dem Textbuch. Sie hat sich einen großen Schal um den Körper gewickelt, denn sie hat schon den ganzen Herbst ihren Ischias gespürt. Das »Odeon« ist ein zugiges Theater.
Lita Thue und Jan Vogt Johansen proben zum fünften Mal, mitten auf der Bühne zusammenzustoßen, nachdem sie jeweils von rechts und von links aus den Kulissen getreten sind, wobei sie den größten Teil der Zeit rückwärts gehen oder nach oben in den Schnürboden blicken sollen. Im Stück ist das Licht ausgefallen, und der Revuestar, die gefeierte Primadonna Loretta Cole, tastet sich durch den dunklen Raum und weiß nicht, daß ihr Geliebter, der Gangsterkönig Johnny DeVito, sich in derselben Künstlergarderobe wie sie befindet, wo er sich auf der Flucht vor der Polizei versteckt hat.
»Herrgott«, sagt Vebjørn Smien mit lauter Stimme aus der dritten Reihe, »das kann doch nicht so schwer sein, seine eigenen Schritte zu zählen!«
Lita Thue tritt an die Rampe vor und hält sich die Hand schützend vor die Augen. »Das ist nicht unsere Schuld«, sagt sie laut hinaus ins Dunkel. »Irgendwas stimmt bei dieser ganzen Szene nicht!«
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