1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Dostojewskij hätte gerne noch Tee getrunken, aber im Hotel war alles finster und in seiner Dependance schien es kein eigenes Personal zu geben. Er musste morgen um eine Kanne mit Spirituslampe fragen. In seinem Zimmer fühlte er sich äußerst niedergeschlagen und fürchtete einen Anfall für die Nacht. Am liebsten hätte er sich so, wie er war, aufs Bett geworfen. Aber gewohnheitsmäßig hatte er noch ein paar Dinge zu erledigen. Er zog den Rock aus und bürstete ihn gründlich durch, ehe er ihn mit der übrigen Kleidung in den Schrank hängte. Er machte seine jeweils dreimal fünf Kniebeugen und Liegestütze. Er wusch sich und putzte die Zähne. Er zog das Nachthemd an. Er prüfte, ob die Türe gut verschlossen war, schob ächzend die schwere Kommode in kleinen Rucken davor und stellte den Koffer darauf. Er setzte sich aufs Bett und betete. Er öffnete das Fenster weit und schaute in die Nacht, die auch hier ein wenig nach Salz und sehr nach Oleander roch. Alles schien zu schlafen. Er zündete die Kerze an und setzte sich an den Schreibtisch, wählte die härteste, schärfste seiner Schreibfedern, legte sich ein dickes Blatt Papier mit Linien vor, öffnete das Tintenfass, tauchte die Feder ein und schrieb in kleinen, wohlgesetzten Lettern: „Heute kann ich in einen lethargischen Schlaf fallen, deshalb soll man mich nicht vor drei Tagen beerdigen.“
Nachdem er noch etwa eine halbe Stunde in seinen Skizzen geblättert und gelesen hatte, stellte er die Kerze auf den Nachttisch und legte das beschriebene Blatt daneben. Da er es gewohnt war, auf dem Sofa hinter seinem Schreibtisch mit dem Kopf auf der Armlehne zu schlafen, türmte er so viele Kissen, wie er finden konnte, auf, legte sich hin, wickelte sich zweimal in die freie Hälfte des Leintuchs, bedeckte seine Füße mit der zusammengelegten Tagesdecke und zog das Leintuch zuletzt über den Kopf wie eine Kapuze. Dann lehnte er die Fensterflügel aneinander und blies die Kerze aus.
II
Der Weg zur Post war kürzer, als Dostojewskij befürchtet hatte, zog sich aber dadurch in die Länge, dass Beppo wesentlich langsamer ging. Hatte er am Vortag zur Eile getrieben, schien er heute die Ankunft eher hinauszögern zu wollen, verweilte gar auf mancher Brücke und schaute nachdenklich in den Kanal, während der Geführte vorwärtsstrebte, eine Umkehrung der gestrigen Rollenverteilung. Beppo trug einen dunklen Anzug, dabei war nicht Sonntag. Aber warum hatte er den Koffer mitgenommen? Dostojewskij wusste, dass er träumte, aber was er träumte, empfand er als vollkommen realistisch. Vor dem Postgebäude standen Männer, alle in Schwarz, ernst und mit kleinen Gläsern in der Hand. Sie verneigten sich vor dem Näherkommenden, einer hielt ihm die Tür auf. Das Innere war marmorn und kalt wie eine Gruft. Ein alter Herr in weißer Offiziersuniform schritt ihm gemessen entgegen und überreichte ihm feierlich ein zusammengerolltes Dokument. Als er es öffnete, sah er aus den Augenwinkeln, wie die Männer von draußen hereindrängten und, zu viele waren es, die einen Blick auf ihn erhaschen wollten, in der Tür stecken blieben. Er beugte seinen Kopf über die Schriftrolle und entzifferte die in großen, altdeutschen Lettern verfasste Mitteilung, dass sein Bruder Michail im Sterben liege. „Und nun“, stand am Schluss, „da Sie das gelesen haben, ist er gestorben.“ Im nächsten Moment waren die Männer hinter ihm schon daran, sich über den Inhalt seines Koffers, dessen Schloss sie erbrochen hatten, herzumachen, drei hielten Beppo, der sich mit Händen und Füßen wehrte, am Boden fest.
Dostojewskij wachte auf und dachte, ehe er die Augen öffnete, seine alte Angst, lebendig begraben zu werden, habe sich erfüllt. Die Stille um ihn war lückenlos. Nur sein Herz schlug ihm bis in den Kopf, und er wagte nicht, sich einen Millimeter zu bewegen, aus Furcht, sich nicht rühren zu können und dadurch zu begreifen, dass er körperlich tot war. So lag er minutenlang regungslos und dachte, dass er wirklich aufrichtige Beziehungen im Leben bisher nur zu seinem Bruder gehabt hatte. Er musste ihm sofort schreiben: dass er ihn liebe und brauche und baldigst eilen werde, ihn zu Hause – wo auch Michail und seine Familie wohnten und die Redaktion des Wochenblattes „Die Zeit“, das die zwei Brüder zusammen gegründet hatten, untergebracht war – zu umarmen. Als hätte dieser Vorsatz ihm Mut gemacht, schlug er die Augen auf.
Und schaute in tiefe Nacht. Es war die Nacht seines Zimmers. An der Tür stand jemand und schaute ihn an, aber es war sein Koffer auf der Kommode. Dostojewskij lag in einem fremden Zimmer in einem fremden Land und war völlig allein in der Welt. Daran würde sich auch nach den in Gang gekommenen Gewöhnlichkeiten des Tags nichts ändern. Überleben konnte er nur aus sich heraus. Hilfe war von nirgendwo zu erwarten. Überleben konnte er nur durch das, was er schrieb, nur durch das, was er davon verkaufte. Dafür würde es nie eine Garantie geben. Wenn er es nicht lernte, mit dieser Unsicherheit zu leben, wäre es besser, er käme gleich unter die Räder eines Fuhrwerks und verendete an den Rändern eines zufrierenden Kanals. Seltsam, dass er sich seinen Tod nur in Sankt Petersburg vorstellen konnte.
Als er zwei Stunden später wieder erwachte, war es schon hell, aber noch immer still. Er konnte sich nicht erinnern, es jemals in einem Zimmer so ruhig gehabt zu haben. Bestimmt nicht in den vier Jahren seiner Kerkerhaft im sibirischen Omsk. Von vierzig Männern in Ketten in einem Raum ist keine Ruhe zu erwarten. Später, in seiner zur Strafe gehörenden Zeit als beschäftigungsloser Soldat in Semipalatinsk, hatte es, an Wintertagen, Stunden der Lautlosigkeit gegeben, aber die kam eher aus einer Ausgestorbenheit und hatte etwas Zuschnürendes, Angstmachendes. Die Stille hier war einfach friedlich und weniger gestört als getragen von nun vereinzelt hörbaren Schlägen einer Nachtigall, die klangen, als ob sie noch aus dem Schlaf des Vogels kämen, verhaltene Stimmübungen späterer Platzkonzerte. Die seinem Namen Hohn sprachen. Aber im Juni in Paris war er auch tagsüber zu hören gewesen. Nein, wenn, dann fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt, und weniger in die Stadtwohnung als auf das sommerliche Landgut, wo der größte Frieden für ihn allerdings darin bestanden hatte, dass er der Obhut der Mutter anvertraut gewesen war. Und wie von diesem Gedanken geweckt, fingen zwei kleine Kinder über ihm zu schreien an, gefolgt von einer Männerstimme und trippelnden Schritten auf Parkett. Das Haus kam in Schwung. Nebenan hörte er Wasserplätschern, eine Tür fiel ins Schloss und jemand rannte die Treppe hinab. Der Vater hatte seinen Kindern Spiele verboten, ob mit Karten, Bällen oder am Brett. Aber er schlug sie nicht, und da in den Gymnasien noch die Prügelstrafe üblich gewesen war – eine Praxis, deren Sinnhaftigkeit in Russland erst seit ein, zwei Jahren diskutiert wurde –, ließ er die Geschwister zu Hause unterrichten. Fjodors Russischlehrer war ein Schulkollege Gogols gewesen und erzählte gern, dieser sei schon als Knabe zu den wildesten Späßen aufgelegt gewesen – einem Kameraden hatte er so lange eingeredet, die „Augen eines Stiers“ zu haben, bis man jenen in die Psychiatrie einweisen musste. Seine Mutter hatte Fedjuscha, wie er von ihr genannt wurde, geliebt. Sie starb an Schwindsucht, als er fünfzehn war, und seltsamerweise mischte sich in die Trauer, die er und Michail trugen, auch die um den größten russischen Dichter, Alexander Puschkin, der wenige Tage vorher im Duell gestorben war. Schon im nächsten Frühjahr sollten sie dann die Reise nach Petersburg antreten, wo ihr Vater, der sie im Adelsregister eintragen hatte lassen, für sie Stipendien an der gerade gegründeten Pionieroffiziersschule bekommen hatte.
Er setzte sich auf und öffnete die Fensterflügel. Warme Luft streichelte sein bleiches Gesicht. Im Kopf hämmerte es. Er zündete sich eine Zigarette an und schaute vorgebeugt zum Fenster der Russinnen. Die Jüngere nähte gerade einen Knopf an eine Bluse und sah kurz auf, als sie den Blick des kleinen Herrn, wie sie ihn für sich nennen musste, spürte. Beide schauten rasch wieder weg. Dostojewskij stand auf, machte Gymnastik, wusch sich und putzte die Zähne. Da klopfte es an der Tür. Er zog die Kommode zurück, langsam, ruckweise, es klopfte wieder, „Un moment“ , knurrte er und zog weiter, wobei der Koffer zu Boden fiel. Endlich war die Tür frei und er entsperrte und öffnete sie. Draußen stand Beppo und grüßte lächelnd den zerzausten russischen Gast, der, wie es aussah, vom Türöffnen rot im Gesicht und außer Atem war. Er hielt ein Tablett mit einem Teeservice in Händen und trat, ohne zu fragen, ein. Stellte das Tablett auf die Kommode, hob den Deckel der großen Kanne und zeigte, dass sie randvoll war. Dazu sprach er natürlich ununterbrochen, aber Dostojewskij hatte unbewusst beschlossen, ihm nicht mehr zuzuhören. Über den Hinweis auf die volle Kanne war er erstaunt. War der Kleine gestern heimlich im Lokal gewesen? Gestisch gab Beppo – indem er in eine Faust blasend ein Posthorn simulierte und mit dem freien Daumen über die Schulter zeigte – seine Instruktionen, wandte sich zur Tür, stellte kommentarlos den Koffer auf, wobei sein Blick das defekte Schloss registrierte, und ging ab. Dostojewskij gab zwei Stück Zucker in den dampfenden Tee, kämmte die Haare und zog sich bis auf den Rock fertig an. Dazu sang er gar nicht leise: „Na sarje ti jejo ne budi, na sarje ona sladka tak spit …“ * , ein zartes Liebeslied aus seiner Jugend vor zwanzig Jahren. Dann setzte er sich an den Schreibtisch, um Gedanken für seine Romane, die ihm in der Nacht gekommen waren, aufzuschreiben. Nach fünf Minuten stand er auf, weil sein Bart vom Waschen noch feucht war und ihn das so ärgerte, dass er nicht denken konnte. Mit trockenem Bart nahm er wieder Platz und schrieb etwa eine Stunde, während er den Tee trank. Dazu rauchte er Zigaretten und hüstelte.
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