Michael Dangl - Orangen für Dostojewskij

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Orangen für Dostojewskij: краткое содержание, описание и аннотация

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Als Fjodor M. Dostojewskij zum ersten Mal Venedig besucht, ist das die Erfüllung eines Kindheitstraums. Doch ist er bereits 40, im Westen unbekannt und in einer beruflichen wie privaten Krise. Die Schönheit und Lebendigkeit Venedigs erreichen ihn nicht. Da widerfährt ihm eine phantastische Begegnung: mit dem Komponisten Gioachino Rossini, 70, weltberühmt, eine Legende. Der barocke Genussmensch, Inbegriff mediterraner Leichtigkeit und Allegria, verzaubert ihn mit Lebensfreude und stellt den grüblerischen, schwermütigen Asketen in drei Tagen sozusagen vom Kopf auf die Beine. Die Gegensätze sind die größten – und doch erleben wir die Annäherung zweier hochsensibler Künstlerseelen, in teils grotesken, komischen und an die Grundfragen des Menschlichen rührenden Situationen und Gesprächen. «Ich habe Venedig noch mehr geliebt als Russland», findet sich in privaten Notizen Dostojewskijs. Der Roman spürt möglichen Ursachen dieser Liebe nach.

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MICHAEL DANGL

Orangen für

Dostojewskij

ROMAN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche - фото 1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

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1. Auflage 2021

© 2021 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Cover Montage: © Shutterstock/Nick Tempest, © Shutterstock/Steve Bruckmann

Druck: EuroPB, Dělostřelecká 344, CZ 261 01 Příbram

ISBN 978-3-99200-297-9

eISBN 978-3-99200-298-6

Für Lia, Maria und Anfisa

Ich habe Venedig noch mehr geliebt als Russland

Fjodor M. Dostojewskij

Inhalt

TEIL I I

Kapitel 1

Kapitel 2

TEIL II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

TEIL III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

TEIL IV

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

TEIL V

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Epilog

Dichtung und Wahrheit

I

1

Anfang August, gegen Mittag, bei großer Hitze, fuhr ein Zug der lombardisch-venezianischen Eisenbahn mit hoher Geschwindigkeit auf Venedig zu. Am Fensterplatz eines vollbesetzten Sechserabteils saß in Fahrtrichtung ein Mann mit bleichem, unausgeschlafenem Gesicht, ein Schriftsteller, der einmal als literarische Hoffnung seines Heimatlandes Russland gegolten hatte und manchen noch galt, wiewohl seine ersten Erfolge nun schon einige Zeit zurücklagen, er im Westen völlig unbekannt und nicht mehr ganz jung war. Er war vierzig und hieß Fjodor Michailowitsch Dostojewskij.

Den Alleinreisenden mit ordentlich frisierten, an der Stirn sich lichtenden und an den Ohren widerspenstig abstehenden Haaren und krausem Vollbart plagte schon seit Längerem ein Hustenreiz, dem er durch wiederholtes Hüsteln in die Faust Herr zu werden suchte, und er lechzte danach, auszusteigen und etwas zu trinken. Der Tee am Mailänder Bahnhof war so heiß gewesen, dass er ihn aus Angst, den Anschlusszug zu versäumen, stehen gelassen hatte. Bahnreisen waren ihm langweilig, und am liebsten wäre er hinausgesprungen und seitwärts neben dem Waggon einhergelaufen. Die Fahrt von Florenz bis Mailand und nun hierher war umständlich gewesen, doch trotzdem und trotz der stickigen Hitze war sein weißer Kragen hochgeschlossen, saß die halstuchartige kurze Krawatte, wo sie zu sitzen hatte, waren graue Weste und schwarzer Gehrock zugeknöpft und wirkte die helle Hose an den korrekt übereinandergeschlagenen Beinen wie frisch gebügelt.

„In Omsk die Sonne geht auf um vier Uhr.“ Überflüssige Bemerkungen seiner Reisegefährten über die Fülle der Sonnenstunden in Italien hatten ihn zu diesem Satz veranlasst, seinem ersten auf der mehrstündigen Fahrt, den er, um besonders dem Berliner Ehepaar ihm gegenüber eins auszuwischen, auf Deutsch formulierte. Trotz langen vorhergehenden Nachdenkens und des Durchspielens verschiedener Varianten wusste er, dass irgendetwas an der Wortstellung falsch war, wie immer, wenn er sich zu einem Satz im Deutschen, das er nur schlecht beherrschte, aufschwang. Im Russischen war alles möglich: „In Omsk um vier Uhr geht die Sonne auf“, „Um vier Uhr in Omsk die Sonne geht auf“, sogar „Aufgeht die Sonne um vier Uhr in Omsk“ war möglich, doch das Deutsche verlangte wie alles in Deutschland Pünktlichkeit und Genauigkeit, und es gab nur eine Lösung, und wer die nicht traf, war blamiert und hatte verloren.

Er wusste nicht, ob die Stille, die dem Satz folgte, dem Inhalt oder der Grammatik galt, und zum Glück wurde sie durch einen lauten Pfiff des Zuges beendet. „Venezia-Mestre“ stand draußen; „Mestre“ bedeutete sicher so etwas wie „Zentrum“, dachte Dostojewskij, sprang als Erster auf, nahm seinen Koffer aus dem Gepäcknetz und verließ das Abteil, wobei er einem Engländer, der an der Tür saß, auf den Fuß trat. Auf dem Perron musste er feststellen, dass niemand außer ihm aus-, vielmehr einige in den schon vollen Zug einstiegen, und er wandte sich an einen neben ihm stehenden Uniformierten.

„Venezia?“ , fragte er heiser und zu leise, denn der Beamte musterte ihn argwöhnisch und antwortete mit einer Gegenfrage, überraschenderweise auf Deutsch und noch dazu mit einer seltsamen Vokalfärbung:

„Wos?“

„Venezia?“

„Venezia-Mestre.“

„A Venezia?“

Der Uniformierte, der, wie er jetzt sah, kein Bahnbeamter, sondern ein Polizist war, da er einen Säbel an der Seite trug, zeigte in die Richtung, in die der Zug weiterzufahren sich eben anschickte, und stieß dazu ein „Do!“ aus. Dostojewskij sprang im letzten Moment wieder auf. Die neu Eingestiegenen, allesamt Herren in dunklen Anzügen, entpuppten sich als Polizisten in Zivil und forderten von den Reisenden Einsicht in deren Pässe. Auch der leise vor sich hin schimpfend in den Zug zurückgekehrte Russe musste seinen vorweisen, ehe er das Abteil wiederfand, den Koffer schwer atmend ins Netz hob und etwas Unverständliches in sich hineinbrummend Platz nahm. Beim Betreten des Coupés war er dem Engländer erneut auf den Fuß gestiegen, und nun konnte man nicht ausschließen, dass es ihm nicht nur nicht entgangen, sondern – und schon beim ersten Mal – Absicht gewesen war.

Mürrisch blinzelte er auf die sonnenfunkelnden Wasserflächen, die sich bald rings um den Zug auftaten. Während die Anderen sich die Hälse verdrehten, in Begeisterungslauten ergingen und die zwei Deutschen sich mit dem Wissen großtaten, dass es in Venedig seit drei Wochen nicht geregnet hätte und das Wasser knapp würde, blieb er die ganze Fahrt über den Damm regungslos und dachte an die vergangenen zwei Monate seiner Reise, seiner allerersten nach Westeuropa, die mit Venedig ihre letzte Station erreichte. Am siebten Juni von Petersburg nach Berlin gekommen, war er erst wie besessen durch Deutschland gerast, jeden Tag in eine andere Stadt, bis sich seine Aufenthalte in Paris, London und Genf verlängerten und er erst vor eineinhalb Wochen Italien betreten hatte. Dabei war die ganze Zeit, verstand er beim Schauen auf die Sandbänke der seine Augen blendenden Lagune, Venedig als geheimes Ziel vor ihm gestanden, und jetzt, da es immer näher kam, schien es, als habe er der Sehnsucht nach diesem Ort, die von frühester Jugend, ja seit seiner Kindheit in ihm gewesen war, einen Verweis erteilen wollen mit den neun Wochen des Kreuz-und-Quer durch Europa, um ihr nicht die Macht zuzugestehen, die sie vielleicht in ihm hatte, und um bei sich selbst nur ja den Verdacht nicht aufkommen zu lassen, sie, die Sehnsucht nach Venedig, sei der eigentliche Antrieb, der heimliche Grund dieser ersten Auslandsreise seines Lebens. Die Hinauszögerung hatte ihm sogar einen gewissen Kitzel bereitet, eine kleine wollüstige Selbstbestrafung war es gewesen, als er nach dem Grenzübertritt aus der Schweiz den Umweg über Florenz genommen hatte, statt geradewegs auf Venedig zuzurasen. Nun bereute er fast, sie – da die Stadt auch im Russischen „Venezia“ hieß, hatte er seit je wie an etwas Weibliches an sie gedacht – für den Schluss aufgehoben zu haben, denn es war gut möglich, dass die vielen schlechten Eindrücke und Enttäuschungen aus vier Ländern und mehr als einem Dutzend Städten, in denen noch dazu fast ständig schlechtes Wetter gewesen war, wie eine dicke Schicht Staub zwischen ihm und dem heimlichen Höhepunkt der Reise seinen Blick trübten, ja verunmöglichten.

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