Er schloss kurz die Augen. Nicht um zu schlafen, nur um besser nachzudenken. Ah che più tardi ancor . Nun hatte er Beppos Melodie im Kopf. Immer wieder klang sie in seinem Inneren, wuchs und schwoll an zu dem Chor, den er die Arie wirklich schon einmal auf einer Bühne hatte singen hören. Ihm fiel nicht ein, aus welcher Oper sie war noch von welchem Komponisten. Wahrscheinlich Rossini, dachte Dostojewskij und schlief ein.
Im Traum lief er wieder durch Venedig. Aber er selbst trug den Koffer, und Beppo war hinter ihm und trieb ihn an, immer schneller, brückauf, brückab, bis die Stadt sich in eine ländliche Gegend verwandelte, die Brücken zu Hügeln wurden, die Plätze zu grünen Wiesen, über die Dostojewskij, auf einmal nicht mehr mit Koffer, sondern mit einem Birkenzweig als Speer bewaffnet rannte, der kleine Fjodor, ein zehnjähriger untersetzter Junge mit hellem blonden Haar, rundem Gesicht, hoher Stirn und vorstehender Nase, denn irgendwo, wusste er, hielt sich der Feind versteckt, der weiße Mann, der ihn Indianer töten wollte. Da sprang er aus einem Gebüsch, sein zwölfjähriger Bruder Michail, und hielt den Haselnussstecken als Gewehr auf ihn. Geschickt ließ sich der kleine Fjodor fallen und rollte eine Böschung hinab, wo ein Kanu, bestehend aus zwei aneinandergebundenen Holzlatten, ihn aufnahm. Er stieß sich vom Ufer ab, und als Michail nachkam, war er schon in die Mitte des Teichs gerudert. Trotzdem legte der andere das Gewehr an, markierte einen Schuss, und Fjodor ließ sich in einer großen theatralischen Bewegung rücklings ins Wasser fallen. Da trieb er dann reglos als „toter Mann“, und die Sonne schien auf sein blasses Gesicht mit den vielen Sommersprossen und auf seine geschlossenen Augen. Als er sie aufschlug, blinzelte er ins Licht, aber er lag dreißig Jahre später in einem Zimmer weit von seiner Heimat in einem Hotelbett und die Sonne schien ihm mitten ins Gesicht. Sie war während seines Schlummers über die Kante des gegenüberliegenden Dachs gerückt und schaute nun direkt durch sein offenes Fenster auf ihn.
Dostojewskij dachte an Darowoje. So arm die Familie am nördlichen Stadtrand von Moskau gelebt hatte, war es dem Vater nach einer Beförderung und Nobilitierung – mit der die Familie ihren angestammten Adelsstatus wiederbekam – gelungen, zwei ganze Dörfer südlich der Stadt zu kaufen, wo sie fortan die Sommermonate auf einem Gut verbracht hatten, die einzigen wirklich unbeschwerten Perioden seines Lebens bisher. Wie zur akustischen Untermalung dieser Erinnerung drängten sich nun russische Laute in die Nachmittagsstille, Stimmen vom Hof her. Dostojewskij setzte sich auf. Langsam bewegte er den Kopf nach vorne, streckte ihn ins Freie, drehte ihn nach rechts und blickte in die Gesichter von zwei Frauen, Mutter und Tochter offenbar, die an einem halb offenen Fenster an der Querseite des Hauses – in dem das Hotel vielleicht auch Zimmer hielt – standen und verstummten, als sie den bärtigen Mann sahen, der nur über das Fensterbrett zu reichen schien und für sie, da sie nicht wussten, dass er saß, wie ein Zwerg wirken musste. Schnell zog der den Kopf zurück. Direkt nach dem Aufwachen angeschaut zu werden, war ihm immer schon peinlich gewesen, als ob sein Gesicht vom Schlaf noch irgendwie „offen“ wäre und die Leute in ihn hinein- oder ihm gar alles „wegschauen“ könnten. Nach ein paar Sekunden nahmen die Russinnen ihr Gespräch (es drehte sich um die Frage, welche von beiden vergessen hatte, zu Hause die Marmelade in den Koffer zu packen) wieder auf. Und er erhob sich, wusch sich, kleidete sich an, diagnostizierte Herzflimmern und Kopfschmerzen und ging aus.
Draußen bereute er, seinen wärmeren Abendrock angezogen zu haben, denn die Hitze hatte um nichts nachgelassen. Er musste als Erstes etwas trinken gehen. An einem Baumstamm gegenüber saß Beppo, sprang auf, als er seinen neuen Herrn sah, klopfte sich den Staub von der Hose und lief los, mit groß einladenden Gesten nach hinten wie ein Fischer, der sein Netz einholt. Automatisch ging Dostojewskij in die andere Richtung. Beppo rief ihn an: „Signore!“ Der Signore erschrak und ging weiter. Beppo rief lauter. Dostojewskij ging schneller.
„Si – gno – re!“
Er blieb stehen und drehte sich um, nur um dem Rufen ein Ende zu machen, die Leute schauten schon.
„La Posta!“ , schrie Beppo aus der Ferne und bewegte die Arme wie ein Albatros seine Flügel. Mit einer kleinen eckigen Handbewegung verneinte Dostojewskij. Es musste auch noch etwas anderes in Venedig geben, als hinter dieser Kugel herzulaufen. Er kannte die Anhänglichkeit solcher Dienerseelen, wie er sie bei sich nannte, gut. Wenn er jetzt nicht hart blieb, hätte er ihn die nächsten zwei Tage am Hals. Zerhackte noch zweimal verneinend mit der Hand die Luft und ging weiter. Doch da hatte ihn Beppo schon eingeholt und redete auf ihn ein, etwas von der Uhrzeit und chiusura , da blieb Dostojewskij stehen, schaute ihn so streng wie möglich an und sagte in seinem besten Italienisch: „No.“
Beppo duckte sich weg, als wiche er einem Hieb aus und fragte, die Hände ineinander verschränkend wie zum Gebet: „Più tardi?“
„Demain“ , brummte Dostojewskij und ließ ihn stehen.
„Deh, pensa che domani!“ , sang Beppo in seinem Rücken im Falsett und winkte, als der Weitergehende kurz zurückschaute, wehmütig wie eine zurückgelassene Geliebte.
Dostojewskij bog die nächste Straße links ab, um aus seinem Blick zu sein. Nach fünfzig Metern kam er an einen Kanal, an dessen noch sonnenbeschienenen Ufer Männer vor einem Lokal in Gruppen Schlange standen. Sie hatten alle Gläser in der Hand. Doch sie standen nicht an, sah er nun, sie waren der aus dem Lokal sozusagen herausquellende Teil einer darin noch viel größeren Menge, und sie taten nichts als debattieren, trinken und rauchen. Einige lachten auch, doch die Stimmung war gespannt, geladen wie bei einer politischen Versammlung oder gar dem Treffen von Aufwieglern, wie er sie gut kannte. Aber auf der Straße? Es waren allesamt Italiener. Als er näher kam, verstummten die ersten, als er fast an der Türe war, über der Schiavi stand, schwiegen die meisten und sahen ihn prüfend an. Er fand es besser, sie nicht herauszufordern und seinen Durst zu unterdrücken, brummte eine Entschuldigung und ging den langen Kanal hinunter in die Richtung, aus der er Segel in der Sonne blitzen sah. Am anderen Kanalufer lagen Gondeln im Trockenen wie gestrandete schwarze Wale, und er staunte, wie groß sie außerhalb des Wassers waren. Es mochte ein Dock oder eine Werkstatt sein, ein Mann stand im Unterhemd und trug Farbe auf. Das Haus daneben wirkte eher wie eines in den Schweizer Bergen.
Der Kanal mündete in einen ungleich größeren, der eine Hauptwasserstraße Venedigs sein musste. Das Ufer war eine breite Promenade, auf der es zuging wie in einer deutschen Kleinstadt am Sonntag: Offiziere saßen in langen weißen Mänteln an Tischchen im Freien, aßen Kuchen und Eis und tranken Likör, andere Uniformierte patrouillierten steif Freizeit spielend auf und ab. Die meisten sprachen Deutsch in langgezogenen, irgendwie gepressten oder geknautschten Vokalen und mehr durch die Nase als durch den Mund. Das waren wohl die Österreicher. Dostojewskij wusste, dass Venedig seit Längerem zu deren Monarchie gehörte und staunte, welch andere Welt sich hier behauptete als einen Kanal weiter vor dem Lokal der Italiener. Aber gespannt war die Atmosphäre auch hier, obgleich sie von der selbstgefälligen Sicherheit einer generationenalten Herrscherdynastie überdeckt war. Wie lange schon war Venedig nicht mehr frei? Und war nicht das übrige Italien seit einem Jahr geeint? Tatsache war, dass Russland den Österreichern gegen die Aufständischen geholfen hatte. Dafür hatte sich dann Österreich im Krimkrieg gegen Russland gestellt. Und aus der Freundschaft der beiden Staaten war etwas Feindseliges geworden. Er hatte keine Lust, in dieser Gesellschaft, die ihn an eine der von ihm verabscheuten Operetten erinnerte, etwas zu trinken und ging auf die Sonne zu.
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