Auf der Anhöhe der Brücke hielt er kurzatmig an und ließ Beppo aus den Augen. Sein Name – und sein Lachen – hatten ihm Vertrauen gegeben. Die Brise, die hier oben in sein Haar fuhr, war um nichts kühler als die stehende Luft und dennoch oder deswegen wohltuend, als streichle jemand mit zärtlicher Hand sein Haupt. Er schaute auf den Kanal. Bunter waren die ihn säumenden Häuser als in Petersburg, vielfarbiger, mit rötlichen Dächern. Die Pfähle im Wasser waren rot-weiß oder blau-weiß bemalt wie in einer italienischen Theaterkomödie, von den Balkonen wehten Fahnen, alles ergab ein heiteres Bild, als wäre irgendein Festtag.
Ein Hustenanfall schüttelte ihn, und er hielt sich an der Steinbrüstung fest, weil ihn schwindelte, und er kurz befürchtete, vornüber in den Kanal zu stürzen. Wahrscheinlich wäre er auf einem Bootsdeck zerschellt oder ein Segelmast hätte ihn aufgespießt, und das wäre dann das Ende gewesen. Dostojewskij starrte auf das munter bewegte Wasser wie auf den Eingang zur Unterwelt, bis Beppo ihn vom Fuß der Brücke her anrief: „Signore!“ Und als dieser zu ihm sah, machte er eine wiegende Geste mit dem Kopf, die unmissverständlich „weitergehen“ hieß.
Sie gingen eine lange, gerade Gasse entlang, in die, ausgerechnet, senkrecht die Sonne fiel. Dostojewskij sah nach oben und schimpfte. Beppo lief fünf Meter vor ihm, er war so klein, dass der Koffer fast am Boden streifte, und so rund, dass der Koffer vielleicht das Einzige war, das ihn daran hinderte, zu kugeln statt zu gehen. Dabei drehte er unentwegt den Kopf zurück und rief Italienisches über die Schulter zu seinem neuen Herrn, der aber dadurch wirkte, als wäre er der Knecht und nähme Befehle zur Eile entgegen. Rechts und links waren Läden und Geschäfte, Handwerker saßen davor und arbeiteten, aus allen Türen, die durchwegs offen standen, drangen Lärm und verschiedenartigste Gerüche. An einer Ecke, wo es penetrant nach Katzenurin stank, bog Beppo überraschend nach links in eine noch schmalere Gasse ab, noch länger als die erste, und nun schien die Sonne den beiden auf den Hinterkopf. Eine Bettlerin hielt Dostojewskij eine offene Blechdose hin. Er blieb stehen und griff in seine Hosentasche, aber da kam Beppo sogleich angelaufen, rief etwas offenbar Unanständiges zur Bettlerin – denn die wurde rot –, hielt den ausgestreckten Arm zwischen sie und den verhinderten Wohltäter und machte mit der Zunge einen schnalzenden Laut wie ein Kutscher zu seinem Pferd. Weitergehend hauchte der Zurechtgewiesene ein „Pardonnez-moi!“ zurück, mehr durfte er der Armen nicht geben. Sie gingen über eine kleine Brücke und einen sehr langen Kanal entlang, an dem ein Gondoliere auf Kundschaft wartete. Schon von Weitem krakeelte Beppo ihm entgegen, sodass dieser seinen Versuch, den Reisenden zu einer Fahrt einzuladen, schnell aufgab und dafür aus vollem Hals auf den mit dem Koffer Dahinstrebenden losfluchte. Kennen die einander?, dachte Dostojewskij. Die anderen Fußgänger achteten weder auf den Streit noch darauf, dass der Kleine im Weitergehen seinen Monolog über die Schulter nach hinten fortsetzte, ohne im mindesten verstanden zu werden. Immer liefen sie in praller Sonne. Auf menschenleeren Balkonen wehten Markisen. Wieder querte Beppo den Kanal über eine kleine Brücke. Ob er etwas essen wolle, fragte er den zusehends Erschöpften hinter sich mit einer Geste. Auf die Pantomime einsteigend, antwortete er mit einer Trinkbewegung, worauf Beppo zum Himmel jauchzte, als hätte er in der Lotterie gewonnen. Und den Marsch im Laufschritt fortsetzte. Durch enge, verwinkelte Gassen, der von ihm Geführte konnte ihm kaum folgen, verlor ihn immer öfter aus den Augen, und schließlich tat sich hinter einer Ecke eine menschenleere Sackgasse auf, die an einem Kanal endete. Oben wehte Wäsche im Wind, es war vollkommen still.
Der Friede des Orts ergriff Dostojewskij mehr als der Schreck, möglicherweise gerade sein Hab und Gut verloren zu haben. Da schnellte eine glänzende Kugel von unten aus einer Hauswand, Beppos schweißnasser Glatzkopf lugte aus einem niedrigen Durchgang, der nicht zu sehen war, bis man direkt davorstand. Der Dichter bückte sich und ging dem Wiedergefundenen nach, der wie zum Hohn über seinen eigenen Kleinwuchs in die Höhe sprang und, trotz Koffer, die Hacken seiner Pantoffel in der Luft aneinanderschlug. Genau an einer Lokaltür kamen sie in eine breitere Gasse. Doch der fragende Blick des Einen bekam nur ein „No, no, no!“ mit erhobenem Zeigefinger zur Antwort, denn der Andere schien ein bestimmtes Ziel zu haben.
Sieben Gassenecken und drei Brücken weiter standen sie vor einer großen Kirche auf der anderen Seite eines Kanals. „Santa Maria Assunta“ , stieß Beppo aus und bekreuzigte sich, aber nicht ohne Ironie, denn er ermunterte Dostojewskij feixend, dasselbe zu tun – wenn er jedoch dessen Gesicht bis dahin als ernst empfunden haben mochte, wurde er eines Besseren belehrt, denn nun verfinsterte es sich sprichwörtlich, und was ihn anblickte, war kein ernstes Gesicht, sondern die Personifikation des Ernstes, wenn auch, wie ihm schien, ohne Vorwurf. Mit einem Lachen erlöste Beppo die Situation und wies mit großer Geste auf eine offene Tür hinter ihnen.
Es war eine Gaststätte, von außen kaum als solche erkennbar und innen nachtdunkel. Es roch stark nach Wein und Schnaps. Der Italiener wurde von zwei Männern hinter der Theke, Hünen mit zerfurchten, zerschnittenen Gesichtern, laut begrüßt wie nach Jahren der Abwesenheit, dabei war er vielleicht nur ein paar Tage weg gewesen, gar nur Stunden, dachte der Ortsfremde und ließ sich dankbar auf einem harten Stuhl nieder. Die Gesellschaft von Männern wie diesen, Lokale wie dieses waren ihm vertraut. Das Spasskij-Viertel in Petersburg rund um die größte Geschäftsstraße, die Sadowaja, wo er in verschiedenen Wohnungen gelebt hatte, war die Gegend der Märkte, der Fuhrknechte, Bauern und Kaufleute. Die wilden Jaroslawler lebten dort, Nachfahren der tatarischen Steppenvölker. Es wimmelte von Taschendieben, zwielichtigem Gesindel, billigen Prostituierten. Die Gassen waren voll Betrunkener und Obdachloser, die Häuser schmutzig und überfüllt. Menschen aus allen Teilen Russlands und jeder Nationalität Europas konnte man dort finden. Einer der Riesen stellte sich vor ihm auf, er reichte fast bis zur Decke. Beppo, am Tresen stehend, hatte schon ein Glas Weißwein in der Hand, klein und bauchig, als wäre es seiner Figur zugeschnitten. Dostojewskij bestellte auf Französisch ein Bier. Keine Minute später stand es vor ihm.
Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte er, dass die Wände zur Gänze mit Darstellungen von Rokoko-Idyllen bemalt waren. Ausgelassene Gesellschaften junger Menschen in leichten, sommerlichen Kleidern tanzten auf Wiesen, lagen, spielten und musizierten an Bachufern, neckten sich, scherzten, gaben sich verschwiegene Stelldicheins in Gondeln und Gärten … sie erinnerten ihn an Szenen aus Stücken von Goldoni und Büchern von Goethe und de Laclos, in denen er als Kind in Moskau zum ersten Mal eine Ahnung von Venedig bekommen hatte, und einen Auslöser seiner Sehnsucht. Vorrevolutionäre Szenen, wie ihm jetzt auffiel – die in seiner eigenen revolutionären Jugend in Sankt Petersburg von den Freiheitsgedanken in den Stücken Schillers, der mitreißenden Aufbruchsenergie in den Opern Rossinis abgelöst oder transformiert wurden und zusammen mit den Werken von Hugo, Flaubert, Balzac einen so zauberischen Eindruck in ihm hinterließen, dass es war, als rufe dieses Westeuropa nach ihm, dem Russen, dem die Heimat alles war und dem doch schien, als wäre alles, was es in Russland an Entwicklung, Kunst, Bürgersinn und Menschlichkeit gab, von eben dort hergekommen, aus Westeuropa, aus Europa eigentlich, denn Russland war nicht Europa, Russland war Russland, aus Europa also, diesem „Land der heiligen Wunder“, wie er es früher gerne genannt hatte. Früher, und definitiv vor seiner ersten Reise dorthin.
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