Nadine Sayegh - Orangen aus Jaffa

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Nicolas Sayegh, ein palästinensischer «Tom Sawyer», streift mit seinen Freunden durch die sonnenübergossenen Straßen des nach Orangenblüten duftenden Jaffa der 1940er Jahre. Doch seine unbeschwerte Kindheit endet abrupt, als im Jahr 1948 seine Familie mit vielen anderen aus einer Stadt flüchtet, die sich ihren neuen jüdischen Herrschern ergibt. «Orangen aus Jaffa» erzählt vom Leben und der Kultur einer bürgerlichen palästinensischen Familie kurz vor der Besetzung Palästinas und der Staatsgründung Israels, auf eine ganz neue Art. Eine wahre Geschichte und ein Roman gegen das Vergessen. Geschrieben von Nicolas' Tochter.

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Nadine Sayegh Orangen aus Jaffa Mitarbeit Hans Schneeweiß Alle Rechte - фото 1

Nadine Sayegh:

Orangen aus Jaffa

Mitarbeit: Hans Schneeweiß

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Valeriya Gridneva

Satz: Sophia Stemshorn

Gesetzt in der Ingeborg

Gedruckt in Deutschland

1 2 3 4 5 — 24 23 22 21

ISBN 978-3-99001-554-4

eISBN 978-3-99001-555-1

Nadine Sayegh

ORANGEN AUS JAFFA

Eine wahre Geschichte über das Ende der goldenen Ära Palästinas

Aufgezeichnet mit Thomas Köpf & Andrea Fehringer

Orangen aus Jaffa - изображение 2

»Alle die Eigenheiten, Sitten und Gewohnheiten, die uns von Jugend an vertraut gewesen und daher – mögen sie nun wertvoll gewesen sein oder nicht – lieb geworden waren, verschwanden über Nacht.«

– Otto Friedländer aus »Letzter Glanz der Märchenstadt«

In Andenken an meine Großeltern Bechara Sayegh und Rose Zarifeh .

Ihre Geschichte soll auch stellvertretend für die Geschichte so vieler anderer Palästinenser ihrer Generation stehen, damit sie nicht im Strom der Zeit von Sediment überlagert und schließlich spurlos ausgelöscht wird .

Für meinen Vater Nicolas, dessen Erinnerungen eine fast versunkene Welt wieder zum Vorschein gebracht haben .

Für Benedikt, Katharina und Frederik, auf dass sie immer stolz auf ihre Herkunft sein mögen .

»Ich bin für Zwangsumsiedlung, darin sehe ich nichts Unmoralisches.«

– David Ben-Gurion, 1938

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Danksagung

Quelle

1

Meinen ersten Bodyguard bekam ich mit elf. Er hieß Jamil und war sechzehn. Jamil war ein Indio aus Chile. Mit der Steinschleuder konnte er eine Wespe im Flug abschießen. Er war einmalig. Mein Vater stellte ihn an, nachdem mich ein Bub in der Schule mit einem Taschenmesser attackiert hatte. Im Jaffa des Jahres 1947 war das ein Skandal. Messer saßen nicht locker im Hosensack, schon gar nicht bei Schulkindern in Privatschulen. In dieser Zeit war Jaffa einer der sichersten und gewiss auch einer der schönsten Plätze der Welt.

Die Stadt gab es seit der Antike. Jaffa, Juwel am Mittelmeer, gleich neben dem neu erbauten Tel Aviv. Jaffa, blauer Himmel und eine Sommerluft, gewürzt mit diesem salzigen Hauch von Freiheit. Und immer dieser Duft der Orangenblüten. Jaffa, Zentrum des Zitrushandels und Schauplatz gelebten Feinsinns. Die Herren trugen Anzüge mit Krawatten und einen roten Fez als Kopfbedeckung, die Damen bodenlange Kleider und ein Lächeln im Gesicht. Sie fuhren in Pferdekutschen durch die Straßen oder nahmen den Bus.

Wir Kinder machten Unfug wie alle Jungen in diesem Alter. Wir kickten Fußbälle. Wir ritten auf Eseln wie Cowboys. Wir schlugen mit dem Ball unabsichtlich Fensterscheiben ein, einmal traf es das Haus einer Polizistin, Pech auch. Wir spielten Verstecken am liebsten, wenn es schon dunkel war. Wir brachten unsere Mütter zur Verzweiflung und die Väter zur Weißglut. Wenn der Ärger zu groß wurde, rannten wir mit eingezogenen Köpfen, aber lachend davon. Ach ja, hab ganz vergessen, mich vorzustellen. Nicolas mein Name. Nicolas Sayegh. Das bin ich.

Der Stammbaum unserer Familie reicht zurück bis ins Jahr 1720. Wir sind Palästinenser, Christen. Mein Vater heißt Bechara Sayegh. Ihm gehörten in Jaffa mehrere Orangenplantagen, Zinshäuser und eine Fabrik. Viel Land. Viel Obst. Viel Leben. Meine Mutter heißt Rose Zarifeh. Ihr gehörten auch eine ganze Reihe Orangenplantagen und Zinshäuser. Die beiden hatten sich beim Zahnarzt getroffen. Sie zarte 21, er schon 40. Sie kannten sich vom Sehen. Er trug eine schwarze Krawatte als Zeichen der Trauer um seine Mutter. Tiefe Blicke im Wartezimmer. Beide hielten sich die Wangen. Bis zur Schmerzbehandlung gingen sich noch ein paar Sätze aus. Der Dialog folgte einem gewissen Ritual, das man sagte, um jemandem Beileid auszusprechen.

Mögen Ihre Jahre bleiben. – Mein Beileid, Monsieur Bechara.

Danke, Mademoiselle Rose, mögen Sie leben. – So ist das Leben.

Jeder Abschied sei schwierig. – Ja, aber es gibt immer wieder einen Neubeginn.

Wichtig sei der Glaube. – Der gibt uns Halt und dem Leben Sinn.

Woher sie diese grazile Gestalt habe, vom lieben Gott oder von der Frau Mama? – Ach, jetzt schmeicheln Sie mir aber.

Wie angenehm der Klang ihrer Stimme sei, könne sie etwa singen? – Nicht wirklich, aber danke, Bechara.

Ob sie in dieser guten Gegend wohne? – Ja, nicht allzu weit von hier.

Ob sie öfter beim Zahnarzt sei? – Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.

Oh, der Doktor ruft. Ob wir beide nachher vielleicht weiterreden möchten? – Ich laufe nicht weg.

Im weitesten Sinn könnte man sagen, dass ich aus einem beleidigten Backenzahn heraus entstanden bin. Ebenso meine Schwester Frida und meine jüngeren Brüder Tony und Georges. Wir alle haben einen dentalen Ursprung.

In unserem Viertel galt ich als Rabauke der Nachbarschaft. Ein Fratz sondergleichen. Wir lebten oben auf dem Hügel Jabal Arak-Tinji , wo sich vorwiegend Christen angesiedelt hatten, im Stadtteil Ajami , was auf Arabisch soviel heißt wie Persisch . Eine dezente Erinnerung daran, dass hier an diesem Ort früher auch Perser ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Unser Hügel, auf dem wir lebten, war ein kleines Babel und der Name eine Reminiszenz an die Osmanen. Jabal Arak-Tinji . Der Berg, auf dem Arak gemacht wird.

Berg war vielleicht ein bisschen hochgegriffen, aber ein steiler Hügel allemal. Die Hauptstraße wand sich wie eine müde Boa hinauf auf den, na ja, Gipfel. Viele kleine Straßen, Gassen und Alleen führten seitlich von der Hauptstraße weg, zweigten ab nach links und rechts. Fuhr man ganz nach oben, ans Ende der Hauptstraße, wo der Blick über das Land bis zum Horizont reichte, kam man zu unserem Haus, zur Sayegh-Villa.

Sie steht heute noch da, nicht weit von der steinernen Treppe, über die man, wer gut zu Fuß ist, zurück nach Ajami hinuntergehen kann.

Die Straßen in Jabal Arak-Tinji waren gesäumt von wunderschönen Villen im mediterranen Stil, all das gebettet in eine üppige Vegetation mit hoher Luftfeuchtigkeit, überall sattgrüne Gärten und Leute, die in aller Ruhe ihre Bougainvillea und den Jasmin pflanzten. Hin und wieder flatterte ein gelbweißer Schmetterling durch die Luft. Am Straßenrand wuchsen rote Mohnblumen wie wild.

Die Familien oben auf dem Hügel hatten alte christliche Namen, die lange in der Historie zurückreichten. Saliba heißt Kreuz. Khouri heißt Priester. Zarifeh heißt schön. Farah heißt Freude. Beiruti heißt aus Beirut. Und Sayegh, das sind wir, heißt Goldschmied.

Heute würde man sagen, in dem Viertel lebten anständige Leute. Man musste die Haustür nie versperren. Der Familienname war besser als jedes Schloss, das Vertrauen unsere Versicherung.

Mein Weg zurück von der Schule gestaltete sich immer gleich. Wir waren zu dritt. Mein Freund John, sein Cousin David und ich. John heißt auf Arabisch Hanna , David heißt Dahoud . John hatte den wenig ruhmreichen Beinamen El Satel , was soviel heißt wie Der Eimer . Es gibt die Redewendung Dumm-wie-ein-Wasserkübel, und damit war John gemeint. Hanna El Satel . Woher der Spitzname genau stammte, wusste niemand so genau. John war kein Idiot, im Gegenteil, in Mathematik und grundsätzlich in allen Wissenschaftsfächern war er blitzgescheit, eine Leuchte. Zudem ein verlässlicher Kumpel. Warum sie ihn den Eimer nannten, musste von seiner eigentümlichen Einstellung der Welt gegenüber herrühren. John hatte eine andere Sicht auf alles. Als würde er ein Fernrohr verkehrt herum halten. Alles an ihm und seiner Gefühlswelt schien weit weg. Er hatte zu wenig einen Bezug. Sein Wasserkübel hatte keinen Platz für intensive Gefühle. Reiche Leute nennt man Exzentriker, junge Leute nennt man Spinner. So ist das Leben.

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