Um diese Denunzierungen in Hinkunft zu vermeiden, brauchte es ein kluges Alarmsystem. Wir fanden es in unseren Freunden Souhail und Emil. Die zwei wohnten ein paar Häuser weiter von mir. Souhail stammte aus der Familie Farah und Emil von den Beiruti. Sie hatten das unverschämte Glück, in der Schule nicht von Miss Badia unterrichtet zu werden.
Jedenfalls, Souhail und Emil gingen in die Collège des Frères , wo sie Französisch sprachen; die Schule war genau gegenüber von unserer. Die zwei bildeten das Anti-Miss-Badia-Frühwarnsystem. Sie instruierten den kleinen Girias, er war drei Klassen unter uns und wollte immer bei den Großen mitmachen. Er postierte sich am Straßeneck, ungefähr dreißig Meter von dem Platz, wo wir immer spielten, und observierte die Lage. Wie bei einer Taube ruckte sein Kopf von links nach rechts, immer spähend, Ausschau haltend. Und da war sie auch wieder, genau jetzt.
»Sie kommt, sie kommt!«, schrie Girias mit seiner hohen Fistelstimme in unsere Richtung. »Lauf, Nicolas, versteck dich, schnell!« Wir gingen in Deckung und sahen, wie der Feind vorbeimarschierte.
So lernten wir, wie wichtig es ist, einen Plan zu haben. Ein Plan ist der Garant für den Erfolg weiterer Schritte. Ein guter Plan ist, als würde man ein Stück Zukunft in Händen halten.
Am letzten Schultag vor den Sommerferien stellte das Leben seine Weichen. Ich war unglaublich gut drauf und fühlte mich, als könnte ich die ganze Welt umarmen. Drei Monate lang konnte uns Miss Badia den Buckel runterrutschen. Ich konnte Fußball spielen, durch die Nachbarschaft streifen oder im Gras liegen, bis sie grün vor Neid war, herrlich. Neunzig Tage ohne Drachenfeuer, was für eine Aussicht. Trotzdem verlief dieser 27. Juni 1947 nicht ganz so, wie ich mir das vorgestellt hatte.
Der Grund hieß Salim.
Vom ersten Schultag an war es Hass auf den ersten Blick. Warum, weiß ich bis heute nicht. Salim Mourad, allein sein Name war nicht gerade melodisch, hatte die Angewohnheit, von hinten anzugreifen, und zwar immer dann, wenn man nicht damit rechnete. Er war ein Meister der Guerillataktik. Kaum hatte ich vergessen, dass mir in der Schule ein Todfeind auflauerte, kam er angeschlichen und verpasste mir einen Schlag auf den Hinterkopf. Er war schmächtig, klein, aber hinterhältig. Einer von der Sorte, die gerne Fliegen fingen und ihnen die Flügel ausrissen. Oder mit der Schleuder auf streunende Hunde schossen. Aufgrund meines körperlichen Vorteils gewann ich nahezu jeden Kampf.
Salim ließ nicht locker. Wie eine Klapperschlange wartete er auf seinen Moment und schlug zu, so fest er konnte. Am letzten Schultag boxte er mir ins Kreuz, als ich am Gang vorbeiging und ihn gar nicht beachtete. Normalerweise hätte ich den Schlag vorausgesehen, mich blitzschnell gedreht und ihn am Revers gepackt. Wir wären dann im Clinch seitlich gegangen wie diese Krabben, die wir am Strand von Jaffa sahen, bis ich in der richtigen Position war, um ihm in den Oberarm zu boxen. An diesem Tag aber war die Welt freundlich, das Leben lachte uns allen entgegen, und ich träumte gerade vor mich hin, was wir so alles in den nächsten Monaten unternehmen könnten, vielleicht nach Beit Jala fahren. Da kam der Angriff. Hinterrücks. Es tat ziemlich weh. Ich konnte mich mühselig umdrehen und Salim wegstoßen, dass er gegen die Hauswand hinter ihm krachte, allerdings fing seine Schultasche den Aufprall auf.
»Du feiger Hund!«, schrie ich ihn an. John und David waren vorausgegangen. Ich musste mich entscheiden, ob ich mit Salim noch weiterkämpfen oder zu ihnen aufschließen wollte, und entschied mich für meine Freunde. So wichtig war die kleine Ratte nun auch wieder nicht.
John, David und ich schlenderten gemütlich Richtung Jabal Arak-Tinji , im Bewusstsein, genau jetzt begännen unsere Ferien. Es schmeckte nach Freiheit, nach Abenteuer, alles ließ sich bewerkstelligen, alles. Jaffa gehörte uns.
»Sind Souhail und Emil auch schon fertig?«, fragte John. »Ich meine, gerade heute.«
»Ich denke schon«, sagte David. »Wie geht’s deiner Schwester und ihrer hübschen Freundin?«
»Frida und Juliana sind wahrscheinlich schon zuhause«, sagte ich. Meine Schwester und ihre beste Freundin besuchten die französische Mädchenschule, die École Saint Joseph , die sich neben dem Collège des Frères befand.
»Und wo werdet ihr in Beit Jala wohnen?«, fragte David.
»Im Everest«, sagte ich. »Das Hotel hat erst vor ein paar Wochen aufgesperrt. Wahnsinnspalast. Überall Marmor, kennt ihr das? Das ist der teuerste Stein zum Bauen. Muss Millionen gekostet haben.«
»Übertreib nicht«, sagte John in seiner üblichen Art. »Oder hast du den Bauauftrag vergeben?«
»Nein, wirklich. Das Everest, sagen alle, ist das schönste Haus in ganz Beit Jala. Und wir sind ganze drei Monate dort. Voll der Luxus, wisst ihr? Da sollen Diener in dunklen Anzügen mit Fliegen herumrennen und einem jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Könnt ihr euch so was vorstellen? Vielleicht gelingt es mir, dass ich einen Schluck Arak bekomme. Oder eine Zigarette.«
»Na sicher, dich werden sie bewirten wie den König höchstselbst«, sagte John und machte eine überschwängliche Geste, gefolgt von einem Kratzfuß. David lachte, und ich fing auch an.
»Ihr werdet schon schauen. Ich habe gute Lust, dort den Sir zu spielen.«
»Aber sicher, Sir Nicolas«, sagte David. »Wie kommt ihr überhaupt zu dieser noblen Bude?«
»Mein Vater kennt den Besitzer«, sagte ich. »Ich glaube, von früher. Er heißt Mister Cook. Wenn ihr wollt, könnt ihr mich ja besuchen kommen, und wir gehen Eidechsen jagen.«
»Klingt gut«, sagte John.
»Oder Schokolade kaufen«, ergänzte ich. »Die haben dort dieses kleine Süßwarengeschäft am Fuß des Hügels, kennt ihr das?«
»Nein«, sagte David, »aber die werden uns schon noch kennenlernen. Vielleicht kosten wir einmal was Neues.«
»Lakritze zum Beispiel.« John überlegte.
»Iiii!«, sagte David und verzog das Gesicht. »Wer mag denn sowas!«
Ich wollte gerade fragen, ob die beiden gemeinsam mit ihren Familien losfuhren, da hörte ich ein Geräusch. Der Kiesel hinter mir knirschte, jemand kam sehr schnell angerannt. Salim.
Bevor ich herumwirbeln konnte, trat er mir in den Rücken. »Dein Vater soll verflucht sein!«, schrie er mit schriller Stimme.
»Nein, dein Vater soll sechzigmal verflucht sein«, ich holte kurz Luft, um mich vom Schmerz zu erholen, »du verdammter Feigling, traust dich immer nur von hinten anzugreifen, ja?« Ich drehte mich um und wollte ihn packen, aber der Mistkäfer rannte erneut hinter mich. Da spürte ich einen Schlag an der Schulter. Salim hielt kurz inne, ein, zwei Sekunden vielleicht, dann rannte er davon. »Du Hundesohn«, rief ich ihm nach. »Sohn von sechzig Hunden, verschwinde!«
Ich wollte David gerade etwas sagen, auf einmal runzelte John die Stirn. Er griff mir an den Rücken. »Nicolas, du blutest ja.«
»Was?«
»Ja, du blutest, dein Hemd ist ganz zerrissen.« Er sagte das in seiner typisch monotonen Art. Mit dem Finger fuhr er mir über die Schulter. Sein Daumen war rot.
David kam näher. »Dieser irre Hund. Der hat dir mit einem Taschenmesser in den Rücken gestochen!«
»In die Schulter«, korrigierte John.
»Egal, könnt ihr das glauben? Der kommt angerannt, attackiert dich von hinten und sticht zu. Ich fass es nicht!«
Ich war im Schock. Ich spürte kaum etwas, nur ein dumpfes Ziehen. Meine linke Schulter fühlte sich feucht unter dem Hemd an. Die Wunde blutete anscheinend stark. Ich hatte noch immer nicht so richtig mitgekriegt, was gerade passiert war.
John kramte in seiner Schultasche. »Nimm das, Nicolas«, sagte er und hielt mir ein Taschentuch hin. Es war sauber, gebügelt und kariert. Ich sah, wie die Linien darauf langsam verschwammen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ernsthaft verwundet war.
Читать дальше