1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Das darf nicht wahr sein, dachte Dostojewskij und sah auf die zwei Bänke der gegenüberliegenden Seite. Hatte er es nicht geschafft, im Lärm Dutzender Männer, die an den langen Winterabenden in der sibirischen Katorga einander ihre Verbrechergeschichten erzählten, sich, wenn er deren müde war, auf seine Bibel zu konzentrieren, das einzige Buch, das ihm in der Haft erlaubt war? Er zwang seine Augen auf die Zeilen über den französischen Gesellschaftsfeind, der, das hatte er schon früher dunkel geahnt, Züge seiner neuen Romanhauptfigur trug, wie sie sich in ihm seit Jahren des mehr oder weniger bewussten Konzipierens gestaltete und zusehends konkretisierte. Oder war Raskolnikow – dieser Name hatte sich ihm aufgedrängt – stärker von Lacenaire beeinflusst, als es sich der Autor zugestand?
Ein zweistimmiges donnerndes Lachen fuhr wie eine Axt in seine Gedanken und hieb sie auseinander. Die zwei Männer hinter ihm lachten wie seit Jahren nicht und schmückten schreiend das was immer Komische aus und lachten noch mehr, einander an Ausschmückungen überbietend, sie grölten wie Betrunkene auf hoher See und standen doch nur in einer Plauderei auf einem Platz. Was sind das für Menschen, dachte Dostojewskij, ging geradewegs am Brunnen vorbei auf die dritte schattige Bank zu und setzte sich, nunmehr mit Blick auf seine Peiniger und in wohltuender Distanz.
Lacenaire hatte acht Wochen vom Todesurteil bis zur Hinrichtung gehabt, dachte er. Bei ihm waren es fünf gewesen. Er nahm sein Notizbuch aus der Tasche, da wurde er wieder von den zwei Freunden abgelenkt, diesmal aber, weil sie sich nun doch zur Trennung entschieden und begonnen hatten, sich in kleinen Etappen voneinander zu entfernen, immer wieder stehen bleibend und aufgehalten durch einen neuen Gedanken, etwas noch dem Gespräch Hinzuzufügendes und wiederum eine Replik darauf und so fort. Natürlich wurden sie dadurch, wenn das möglich war, noch lauter, und da man nun dauernd die Hoffnung hatte, jetzt und jetzt ginge die Sache zu Ende, geradezu flehend an den Lippen der sich Verabschiedenden hing und gar nichts anderes mehr denken konnte, war es, als hätte die Störung erst so richtig begonnen. Dostojewskij blätterte die Zeitung durch. Die Südstaaten hatten eine Schlacht im amerikanischen Krieg gewonnen. Der rumänische Ministerpräsident war ermordet worden. Der Waffenerfinder Samuel Colt gestorben. Die Männer standen nun an je einem Eck des Platzes und setzten ihre Unterhaltung über gute vierzig Meter rufend und dabei mühelos fort. Passanten störten sich daran nicht im Geringsten. Die Stimmen hallten von den Hauswänden wider und füllten das Geviert wie ein Theater mit guter Akustik. In der Zeitung stand weiter, dass Saigon jetzt Hauptstadt der französischen Kolonie Cochinchina war. In diesen Tagen wurde in Italien die Lira endgültig zum einzigen Zahlungsmittel in allen zum Königreich vereinten Gebieten gemacht, in allen also außer Venedig, dachte Dostojewskij und schaute auf, weil eine neue Irritation eingetreten war: völlige Stille. Die Männer waren verschwunden und hatten den Platz in tiefsten Frieden entlassen.
Eine Minute lang hörte man gar nichts außer den Flügeln und Krallen der am Boden nach Nahrung scharrenden Tauben. Es war heiß und windstill. Dostojewskij atmete durch. Und streckte die Beine aus. Ausgestreckte Beine ergaben ganz andere Gedanken als angewinkelte. Mit der Stille war eine Spur Traurigkeit in ihn gekommen, und mit ihr ein Hauch Glück. Alleingelassen, brauchte er keine Rechtfertigung mehr für sein Sitzen und Sein. Etwa zehn Minuten saß er so. Oder waren es dreißig? In Stille und Alleinsein verging die Zeit auf eigene Art. Er erinnerte das ungläubige Gesicht Michails, als dieser ihn während seiner Festungshaft – den langen acht Monaten vor seiner Hinrichtung, die im letzten Moment in Zwangsarbeit umgewandelt wurde – besuchte und seinen Bruder nicht niedergeschlagen vorfand, sondern bester Laune: Das Eingesperrtsein erlaube ihm endlich, sich auf sein Schreiben zu konzentrieren, nichts in der Einzelzelle lenke ihn von sich ab. Auch wenn er sich zu Unrecht eingesperrt fühlte, schlecht schlief und Angst vor einer Verurteilung zum Tod hatte. Für den „Homme isolé“ , wie ein Schullehrer ihn genannt hatte, war die Isolationshaft eine Art Zuhause. Eigentlich mehr als jedes andere zuvor.
Eine Gruppe Halbwüchsiger in Matrosenuniform ging an ihm vorbei und über den Platz in Richtung des großen Kanals, an dem er gestern Abend die österreichischen Offiziere gesehen hatte und an dem österreichische Kriegsschiffe lagen und der doch nicht, hatte er inzwischen von Beppo erfahren, der Canal Grande war, sondern einer mit einem Namen, der wie „Zudecke“ klang. Hatten selbst die Kanäle schon einen österreichischen Pass bekommen? Da der Kaiser Venedig zum ersten Marinestützpunkt der Monarchie erklärt hatte, war alles möglich. Die uniformierten Knaben bogen ums Eck, einer büxte kurz aus, um eine kleine Gruppe Tauben aufzuschrecken, was ein kurzes Ausbüxen in eine verbotene Kindheit sein mochte, wurde aber schnell von seinen Kameraden in den Ernst des Lebens zurückgemahnt. Ein Kanonenschuss vom jenseitigen Ufer ließ die Tauben auffliegen und, wie es schien, die alten Mauern erzittern. Dostojewskij erschrak nicht, er kannte den mittäglichen Salut von der Petersburger Peter-und-Paul-Festung. An der Pionieroffiziersschule von Zar Nikolaj vor fünfundzwanzig Jahren herrschte ein strengeres Regiment, dachte er. Derart freier, unbeaufsichtigter Ausgang in Uniform wäre nicht denkbar gewesen. Und bei schlechten Noten gab es sogar am Sonntag Ausgangsverbot. Verstöße gegen die Anstaltsordnung wurden mit Karzer bestraft. Die Hauptübungen neben dem Lernen waren Gymnastik, Fechten, Schießen und Marschieren: allesamt Schwachstellen des sehr dünnen, krankhaft blassen Fünfzehnjährigen mit den hellen, dünnen Haaren, den eingesunkenen Augen und dem Blick, der durchdringend und tief war, wiewohl er nicht wirklich zu schauen, sondern eher, während er sah und registrierte, mit etwas Anderem beschäftigt zu sein schien. Die untersten Klassen wurden „Sibirien“ genannt. Die Freizeitvergnügungen der Mitschüler – Ballspiele, in den folgenden Jahren Zechgelage –, ihre obszönen Witze und Lieder stießen ihn ab, ihre Mut- und Kraftproben fand er dumm und mied sie wie das gemeinsame Baden am Newa-Strand. Der junge Fjodor verkroch sich lieber in einer Dachnische mit Blick auf die Fontanka, einen das Zentrum Petersburgs umlaufenden Kanal, und las. Die Literatur befreite ihn. Schiller und Byron verzauberten sein bedrücktes Dasein. Bücher waren die Rettung. Die einzige. Und der Literaturzirkel, den der Einundzwanzigjährige gründete, nachdem er die Schule – der Vater war seit vier Jahren tot – hingeschmissen hatte, war ein freier Fluss von Ideen und Utopien, ein Ort für Gefühle statt Gewehre, für Menschlichkeit statt Menschenverachtung. Und der Blick ging nach Westeuropa, wohin sonst? Dort war der Schriftsteller seit dem achtzehnten Jahrhundert ein anerkannter Beruf, während der Dichter in Russland heute noch in erster Linie Staatsdiener zu sein hatte, um leben zu können. Der Blick, die Sehnsucht: nach Europa!
Die Sonne fiel durch die hohen Platanenblätter auf sein blasses gedankenverschlossenes Gesicht. Er schnellte, die Beine noch immer ausgestreckt und die Füße überkreuzt, die Arme nach oben wie in einer Sitzturnübung oder zum Sieg und streckte dabei den Rücken durch, dass es knackte, wobei ihm das Blut in den Kopf schoss und er sich schnell mit beiden Händen an der Bankkante festhalten musste, um nicht vor Schwindel umzukippen. Und vielleicht auch ein bisschen vor Euphorie. Nach zwei Monaten in Europa schien es ihm auf diesem friedlichen, mittäglich heißen Platz so, als wäre er endlich auf dem ersehnten Kontinent angekommen.
Eine weitere Zeitungsmeldung besagte, dass Frankreich etliche bedeutende Kunstschätze, die Napoleon geraubt hatte, an Venedig zurückgegeben habe und diese nun in der Kunstschule für Malerei und Skulptur, der „Galleria dell’Accademia“, ausgestellt seien. Sie war durch die Sammlung von Kunst aus den von Frankreich säkularisierten Kirchen und Klöstern entstanden. Und da einige Frauen sich mühten, mit Eimern Wasser aus den Tiefen des Brunnens zu ziehen, und das ganz und gar nicht lautlos taten, was ihn nicht mehr wunderte, ließ er die Zeitung liegen und ging in die Richtung, die Beppo ihm gewiesen hatte.
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