Er ging die Uferzeile weiter, bis die Häuser immer einfacher wurden. Er ging nicht gern zu Fuß, aber er tat es auch zu Hause jeden Tag, wie hier über Brücken und Kanäle, weil er im Gehen allein war und denken konnte und weil es ihn müde machte und Müdigkeit ihm guttat. Er hatte wieder zu lange nichts gegessen und kehrte um, zurück bis nahe an den Markusplatz, wo die Lokale häufiger waren. Von den vielen Restaurantterrassen wählte er, einem unerklärlichen Sehnsuchtsschub beim Lesen des Namens folgend – obwohl er an London alles andere als gute Erinnerungen hatte –, die des Londra Palace.
Am Anfang der Reise hatte er sich angewöhnt, wenn möglich auf den Terrassen der Restaurants zu essen, weil die Tische in den Sälen zu eng standen und die Deutschen immer so neugierig schauten, was er bestellt hatte. Da nun auch hier die tedeschi regierten, nahm er lieber in einem der eleganten beschatteten Fauteuils im Freien Platz. Die Speisekarte verkündete auf Italienisch, Deutsch und Französisch, dass man sich freue, den Gästen jeden Wunsch zu erfüllen. Das Bier kam zu seiner Enttäuschung nicht offen, sondern in einer kleinen Flasche und war kälter, als es Bier zusteht. Als er den Löffel in die appetitlich aussehende Suppe tauchte, erschien ein Kellner mit einem schweren Stück Käse und hobelte ihn mit einer Reibe über den Teller, deckte die Suppe völlig damit zu, und der Geruch verdarb ihm den Appetit. Missmutig fischte er ein paar Brocken Gemüse unter dem Käse hervor, und obwohl er sich im Gefängnis an Suppen voll Küchenschaben hatte gewöhnen müssen, schickte er den Teller zurück und bat erneut um die Karte. Als er nach längerem Studium aufschaute, bekamen Gäste drei Tische weiter gerade ihr Essen, und Dostojewskij machte, um seinen Blick zu schärfen, die Augen schmal, denn was er sah, war zu schön, um wahr zu sein, es war sein geliebtes Gericht, das er in Sibirien kennengelernt hatte: gefüllte Teigtaschen – Pelmeni! Er schlug die Karte zu und rief den Kellner. Um seine Euphorie zu überspielen, murmelte er eher undeutlich und mit dem Gestus weltmännischer Gelassenheit: „Pelmeni“, und machte eine kleine Bewegung mit dem Kopf zum Tisch, wo die Gäste mit großem Genuss ihre Teigtaschen verzehrten. Der Kellner, der seine Augen am Schreibblock hatte, sah die Kopfbewegung nicht, stockte aber, als er das Wort hörte, aus irgendeinem Grund, ehe er es aufschrieb. Dostojewskij lehnte sich befriedigt zurück und wartete. Sibirische Pelmeni in Venedig. Was es alles gab. Nach einiger Zeit steckte der Kellner den Kopf aus der Tür, zeigte auf ihn und sagte etwas zu einem anderen Kellner, der feiner angezogen war. Beide verschwanden. Kurz darauf kam der andere, der wohl ein Vorgesetzter war, und fragte sehr höflich:
„Scusi, Signore, lei desidera pelle di mele?“
Dostojewskij kam die italianisierte Form des Namens seltsam vor, aber er hatte keine Lust auf Komplikation und sagte, aus Scham, kein Italienisch zu können, das beabsichtigte „Oui“ verwechselnd, laut „Da“ . Der feine Herr verneigte sich und ging. Nach fünf Minuten öffnete sich ein kleines Fenster am Eck des Restaurants und ein Koch schaute verwundert auf den Gast, der die Suppe hatte zurückgehen lassen, schnalzte mit der Zunge und machte das Fenster zu. Nach weiteren fünf Minuten brachte ein Kellner einen Teller mit etwas, das aussah wie grüne Apfelschalen. Sehr sorgsam vom Apfel oder von den Äpfeln gelöst, geradezu kunstvoll geringelt und drapiert und mit roten Tropfen besprengt, die nach Erdbeere rochen, liebevoll angerichtet, aber eben doch – Schalen. Als der erste Kellner heraustrat, winkte er ihn zu sich.
„Qu’est ce que c’est?“
„Come?“
„What is this?“
„Cosa lei ha desiderato …“
„Schto?“ , entfuhr es ihm auf Russisch.
„Cio?“ , echote der Kellner ratlos. „Un attimo, per favore.“
Der Vorgesetzte kam und fragte auf Französisch, was der Herr bestellt hätte, nun, Pelmeni, sagte der und wies zum Nebentisch, wo die Gäste aber inzwischen Eis löffelten. Beide schwiegen einige Sekunden. Dann klärte sich die Sache auf. Das Wort „Pelmeni“ war hier völlig unbekannt. Der erste Kellner hatte sich Pelle di meli zusammengereimt, die falsche Pluralform meli statt mele für „Äpfel“ verwendeten viele Ausländer, pelle war auch nicht ganz korrekt, das hieß „Haut“, aber gut. Und ihnen sei eingetrichtert, den Gästen wirklich jeden Wunsch zu erfüllen, und da auch Essig aus Apfelschalen gemacht wurde, dachte man sich, warum nicht.
„Und was haben die Herrschaften vorhin dort gegessen?“
„Gefüllte Teigtaschen.“ Dostojewskij schaute verständnislos.
„Tortellini.“
„Nun gut.“ Er legte die Hände auf den Tisch und atmete durch. „Dann bringen Sie mir das, bitte.“
„Es tut mir leid, die Küche hat bereits geschlossen.“
„Dann die Rechnung bitte.“
Diese Untugend zog sich durch Europa: das frühe Schließen der Lokale. In Russland bekam man die ganze Nacht etwas. Drei Löffel Gemüse und ein kleines Bier – die Apfelschalen wurden nicht in Rechnung gestellt – kosteten mehr, als er je auf der Reise für ein Hauptgericht bezahlt hatte.
Es war immer noch heiß, doch waren die fernen Wolkenfronten inzwischen näher gerückt und bevölkerten den dämmernden Himmel wie eine riesige Herde kleiner Schafe. Die ins Meer tauchende Sonne beleuchtete sie blutrot. Über den Inseln verfärbten sie sich grau. Am Markusplatz war inzwischen Struktur in das bunte Treiben gekommen. Eine Militärkapelle hatte sich vor den nun gasbeleuchteten Arkaden hinter den Tischen eines Cafés postiert, an denen vornehme Damen und Herren, darunter viele österreichische Offiziere, bei Kaffee, Eiswasser, Likören und Zigarren saßen, plauderten und der Musik lauschten, während über den weitaus größeren Teil des Platzes hin eine dichte Menge von Männern und Frauen aus dem Volk stand oder auf- und abging, venezianische Familien mit Kindern, bizarre Gestalten in griechischer und türkischer Tracht, Bettler, Verkäufer von Süßigkeiten, Nonnen und Seemänner. Die Kapelle, gut sechzig Mann, spielte österreichische beschwingte Musik, wahrscheinlich aus Operetten, etwa die Hälfte der über den Platz ziehenden Venezianer hatte sich in gemessenem Abstand vor die Kaffeehaustische gestellt und lauschte ebenfalls der Musik, wobei es aber den Eindruck machte, als gehörte die feine Gesellschaft zur Darbietung und als betrachtete ein Publikum von einem gigantischen Stehparkett aus ein Schauspiel, dessen Akteure saßen und von Musik begleitet wurden. Die Heiterkeit der Klänge stand in befremdlichem Kontrast zu der gespannten Situation. Denn so manche der in hellen, leichten Kleidern und Anzügen Dasitzenden fühlten sich mit ihren Kuchengabeln und Porzellantassen sichtlich unwohl unter den ernsten Blicken der dunklen, schwarz gekleideten Menge, der vielen hohlwangigen, großäugigen Kinder, und wären gerne unter sich gewesen. Diese still und bedrohlich dastehende Menge, die in einer geradezu grotesken Überzahl war, hörte gebannt auf die Musik. Doch war ein Stück zu Ende, rührte sich keine Hand zum Applaus. Es war klar, dass das als Verrat gegolten hätte – an ihrem Land, an ihrer Stadt, die besetzt und beherrscht war von einer fremden, gefürchteten, verhassten Macht. Ihr Schweigen hatte etwas von einem stummen Schrei.
Dostojewskij schaute und hörte vom Vorplatz der Kirche aus zu. Er mochte das Gescheppere und Gedudel nicht. Die letzte musikalische Darbietung, die ihn zutiefst berührt hatte, war in Wiesbaden das Stabat Mater von Rossini gewesen. Außerdem beklemmte ihn die geladene Atmosphäre auf dem Platz, und er fragte sich, welche seine Rolle in dem traurigen Stück wäre, das hier gespielt wurde. Sicher nicht unter denen, die sich als die Herren großtaten. Viel eher sah er sich beim Volk hinter dieser unsichtbaren Glasscheibe stehen, die seit je und für immer Arm von Reich, unten von oben zu trennen schien, beim Volk, für das sein Herz schlug, seit er dem russischen in der Verbannung so nahe gekommen war wie nie zuvor. Er wollte gerade weitergehen – die Kapelle spielte einen Militärmarsch und hielt einen langen Trommelwirbel –, als ein gewaltiger Donner das Szenarium erschütterte und die Blicke aller auffahren ließ, die der Sitzenden wie der Stehenden, der Flanierenden wie der Musizierenden, zu einem trotz der zarten Bewölkung heiteren Himmel, der diesen Kanonenschlag von wer weiß wo geschickt hatte, nur einen, ohne das Nachspiel eines Gewitters, ohne einen Hauch Wind, an einem heißen, ruhigen, friedlichen Abend, ein Donner nur, ein furchtbares, alles durchdringendes Krachen, das tausend Tauben auffliegen ließ zu den schützenden Fensterbögen über dem Platz und das gut eine halbe Minute nachgrollte. Es war ein unheimlicher Moment, und es fiel schwer, ihn nicht als einen Kommentar zu der Zerrissenheit des Orts, der Stadt, der Völker zu verstehen.
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