Die letzten Händler waren abgezogen. Es war dunkel geworden. Und still. Ein beinahe voller Mond stand am Himmel. Dostojewskij nahm Abschied. Von Venedig, von West-Europa. Und das war zugleich ein Abschied von Träumen, die aus der Kindheit kamen und den jungen Mann in ihm beflügelt hatten. Es war ein Abschied von seiner Jugend. Er stützte die Ellbogen auf und legte die Hände an die Wangen und die Fingerspitzen an die Schläfen. Er kannte den Zustand, der sich seiner bemächtigte. Er hatte ihn beschrieben. Er hatte es ein „mystisches Entsetzen“ genannt, „die Furcht vor etwas, das er selbst nicht angeben konnte, etwas Unfassbares, gar nicht Existierendes in der Ordnung der Dinge, das im Begriff war, wirklich zu werden, wie zum Hohn auf alle Beweise der Vernunft …“. Lange stand er so. Und da er den Kopf schwerer werden fühlte, löste er die Arme von der Brüstung und legte die Stirn auf den warmen Stein, wie man sie sonst zur Kühlung auf etwas legt, jedenfalls zur Linderung, oder auch zum Gebet … als er hinter sich ein Geräusch hörte.
Zuerst dachte er an eine Maus oder Ratte. Nächtlich verlassene Märkte und deren Bewohner waren ihm vertraut. Doch das Knacken oder Klopfen wiederholte sich, und als er sich umdrehte, sah er einen Schatten zwischen zwei Läden. Es konnte ein Dieb sein, und seine Kräfte zur Abwehr im Fall eines Angriffs wären gering gewesen. Doch er hatte keine Furcht und ging einen Schritt näher. Hörte er es hinter dem Verschlag einen Meter vor ihm atmen? Auch war es, als würde ihn etwas durch die Zwischenräume der Bretter anschauen. Ein Plumpsen im Kanal ließ ihn herumfahren, ein Mann stand am Ufer und sah etwas Hineingeworfenem oder -gefallenem nach, vielleicht einer Flasche, denn er wankte. Als Dostojewskij wieder zurückschaute, huschte seine Erscheinung die Stufen hinunter zur anderen Seite als der, von welcher er gekommen war, immer so an den Läden entlang, dass die schattenwerfende Figur selbst unsichtbar blieb. Er ging ihr nach. Am Fuß der breiten Steintreppe gluckste Wasser vom Kanal, kurz davor, auf die Gasse zu steigen, was hinsichtlich der langen Trockenheit doch erstaunlich war. Die Ladenreihe setzte sich in einer Geraden fort und führte zu einem Platz, dessen Geruch keinen Zweifel darüber aufkommen ließ, was tags auf ihm verkauft wurde: Fisch. Ein Mann in abgerissener Kleidung durchsuchte eine Mülltonne, und Dostojewskij dachte an die Frauen und Männer, die jeden Morgen zum Sennoi-Markt kamen, um Fleisch, Fisch und Gemüse für die Obdachlosenheime zu erbetteln. Die meisten Händler gaben ihnen von ihren Waren. Ein kleines Geschäft war eben daran, zuzusperren, die alte Verkäuferin kam aber dem Wunsch des ausländischen Kunden nach einem Stück Käse und einem Viertel Laib Brot nach und richtete ihm beides sehr umständlich in einem Päckchen zusammen. Von den Münzen, die er ihr hinhielt, wählte sie die kleinste und beschenkte ihn zudem mit einem, wie er es empfand, zutiefst mädchenhaften Lächeln von ihrem greisenhaften Mund. Draußen riss Dostojewskij das sorgfältig Verschnürte auf und biss gierig ins harte Brot, wobei ein Zahn heftig schmerzte und wackelte. Ein schlechtes Zeichen, dachte er, und überlegte, in welche Richtung er sich auf die Suche nach seinem Zimmer machen sollte, wo er Käse und Brot – Tee würde er wohl noch bekommen – verzehren, zwei bis drei Stunden arbeiten und sich nicht zu spät schlafen legen wollte, um den frühestmöglichen Zug nach Triest und dann über Wien, Dresden und Berlin nach Hause zu nehmen. Da sah er an einer Ecke des Marktes wieder eine Bewegung, diesmal die einer kleinen rundlichen Figur, die ihn an Beppo erinnerte, den er ganz vergessen hatte. Winkte sie, ehe sie um die Ecke bog? Er ging ihr gesenkten Hauptes nach und kaute kleine Bissen Brots und mochte sich selbst überhaupt nicht in dieser Situation und auf dieser Reise, deren Niederlage er sich eben auf der Brücke eingestanden hatte und die er sein weiteres Leben mittragen würde als fehlgeschossene Utopie seiner Jugend, deren stationsweise Demontage er rekonstruieren und den russischen Lesern in einem Reisebericht seiner Zeitschrift übermitteln müsse.
Musik drang zu ihm aus nicht weiter Ferne. Er hob den Kopf und sah nun ziemlich sicher, dass es Beppo war, der in eine Gasse tauchte. Je näher er kam, desto deutlicher klang die Musik aus ihr, ein lebhafter italienischer Gesang einer Gruppe Feiernder, von einer sehr kräftigen Männerstimme angeführt und von den Trommel- und Schellenschlägen eines Tamburins begleitet. Er blieb stehen und las „Calle de la Madonna“. Keine zwanzig Schritt weiter kündeten eine Laterne und durch eine offen stehende Tür fallendes Licht von Leben in der sonst dunklen und in die Tiefe völliger Finsternis gehende schmale Gasse. Als er einen Fuß in sie setzte, umfing ihn kühle Feuchtigkeit, die er als wohltuend empfand. Der Gesang wurde mit jedem Schritt lauter und schwoll, als er unter der Laterne an einem zur Gänze abgedunkelten Fenster stand, zu solcher Wucht an, dass er seine Energie in den Haarspitzen und die geballte Lust der vielfältigen, männlichen wie weiblichen, alten wie jungen, Stimmen in seiner Brust zu spüren meinte, als wollte sein müdes Herz mithüpfen zu dem stampfenden, zuversichtlichen Rhythmus dieses heiteren, volkstümlichen Liedes, dieser hymnischen und dabei zutiefst eingängigen, einfachen Melodie, deren Vortrag den Charakter einer professionellen Aufführung hatte und doch vom Lachen, den Übertreibungen und kleinen Unsauberkeiten, wie sie einer ausgelassenen Schar lebhaft Feiernder zu eigen ist, durchsetzt war. Über der Tür stand in fast nicht mehr lesbaren Lettern Acquasanta .
Der Gastraum war leer. Und wenig beleuchtet. Einzig die Schank im Hintergrund war hell und in Betrieb. Flaschen, Becher, Gläser türmten sich auf ihr. Alles Leben spielte sich hinter einer angelehnten Flügeltüre ab, durch die der Gesang gedämpfter drang als vorhin durch das Fenster auf die Gasse. Die ging auf und ein gebückter Mann mit Schürze, der zu sich selbst sprach, brachte zwei leere Weinkrüge. Im Vorbeigehen sah er kurz hoch, und Dostojewskij wusste nicht, ob eine seiner vor sich hin gemurmelten Äußerungen ein Grußwort war. Der Wirt – um den musste es sich handeln – stellte die Krüge unter den Hahn eines Fasses und nützte die Zeit ihres Volllaufens dazu, sich aufstützend zu verschnaufen. Er blieb weiter im intensivsten Dialog mit sich, stellte sich Fragen, gab sich Antworten, zuckte die Schultern, lachte, schaute nun aber den Unbekannten vor sich so intensiv an, als spräche er zu ihm. Kein Befremden über seine Anwesenheit. Als die Krüge voll waren, machte er sich mit einer lauteren Suada Kraft und trug sie durch die Flügeltüre, die er nun einen Spalt weiter offen ließ und so einen Blick hinein gewährte. Eine bereits in beträchtliche Unordnung gebrachte gedeckte Tafel stand über die ganze Länge des nicht großen Raumes, an der sich die meisten der Feiernden wie in Darstellungen des letzten Abendmahles an einer Seite zusammendrängten, in deren Zentrum ein stattlicher Mann mit beträchtlicher Leibesfülle, breitem Kopf und kunstvoll gewellten schwarzen Haaren saß, der wie ein Familienvater aus voller, breiter, kräftiger Brust singend den Ton angab und mit einer riesigen Schöpfkelle dirigierend den Takt schlug. Die Gesichter der um ihn Sitzenden waren markant und charaktervoll, als wären die Typen einer italienischen Komödie, von Jung bis Alt, an einem Tisch versammelt, was auch die gewisse Brillanz ihres Gesangs erklären mochte. Die Kerzenbeleuchtung verstärkte das Gemäldehafte der volkstümlichen Szene, zu der nur die feinen Kristallgläser, in die der Wirt aus seinen derben Krügen perlenden Wein schenkte, in Kontrast standen. Die Augen des Familienvaters fielen durch den Türspalt auf die Gestalt des draußen stehenden einsamen Herrn und blitzten auf, der breite, sinnliche Mund ging noch ein wenig mehr in die Breite und ein Teil der taktgebenden Kopf- und Schöpfkellenbewegungen wurde zu einem freundlichen Gruß, den ein geselligeres Gemüt als das Dostojewskijs erwidert hätte. Er aber stand regungslos mit seinem Päckchen Brot und Käse und wusste nicht, was ihn abhielt, in die Nacht zu schlüpfen und nach Hause zu gehen. Da sah er, wie der Sangesvorstand sich zum einschenkenden Wirt neigte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, worauf dieser mit seinem gebeugten Rücken, der jeder seiner Handlungen etwas Geflissenes gab, um den Tisch und durch die Tür eilte, sich vor Dostojewskij aufstellte und in Italienisch gefärbtem Französisch sagte: „Der Maestro lädt Sie ein, hineinzukommen.“
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