Die Kapelle fiel danach wieder in das Marschmotiv, aber irritiert und gedämpfter und bemüht, einen gemeinsamen Takt zu finden, die Damen und Herren an den Tischen retteten sich in lustige Bemerkungen zueinander, und die Menge schwieg weiter. Dostojewskij nützte die erstbeste Gasse und verließ den Platz.
Im Gewirr der Wege versuchte er, sich links zu halten und so, den Platz umgehend, Richtung Hotel zu kommen. Er wollte eine Kleinigkeit zu essen kaufen und den Rest des Abends in seinem Zimmer verbringen. Doch der innere Kompass, den er in Petersburg benutzte, funktionierte hier nicht, und bald musste er sich eingestehen, überhaupt keine Orientierung zu haben. In einer langen, engen Gasse kamen ihm drei Polizisten entgegen. Schon von Ferne nahmen sie ihn ins Visier, und es gab keine Möglichkeit, abzubiegen und der Begegnung zu entgehen. Als sie fünf Schritte vor ihm waren und einer bereits Anstalten machte, ihn anzusprechen, zog Lärm aus einem winzigen Lokal ihre Aufmerksamkeit ab und sie duckten sich alle drei durch die niedere Tür und waren verschwunden. Dostojewskij warf im Vorbeigehen einen vorsichtigen Blick hinein und sah eine Gruppe Männer mit Schnapsgläsern, die, in einer hitzigen Debatte unterbrochen, verdutzt den Uniformierten gegenüberstanden. Erleichtert ging er weiter.
Raskolnikow sollte im Roman die Polizei selbst auf seine Fährte bringen, dachte er. Da sein Verbrechen ihn auch äußerlich aus der Gesellschaft katapultierte, zu der er innerlich nie gehört hatte, konnte seine Rettung nur im Bekenntnis seiner Schuld und in der Verhaftung bestehen. Die Geschichte über Lacenaire mussten er und Michail in der „Zeit“ in ihrer Rubrik „Verbrechen und Strafen“ bringen. Und während er in Gedanken einen Handlungsstrang des Romans bis zum möglichen Ende weiter verfolgte, gingen seine Beine lange ziellos über Treppen und Wege, kleine Plätze und schmale Brücken, bis er sich auf einmal vor der breiten Wasserstraße fand, die der Canal Grande sein musste. Im ersten Moment glaubte er sogar, die Brücke zur Galerie und zu seinem Hotel auszumachen, und lobte seinen Instinkt, doch zu früh, die Brücke war aus Stein und hatte Aufbauten in der Mitte und war, jetzt erinnerte er sich an Darstellungen, keine geringere als die von Shakespeare verewigte, berühmte von Rialto.
Händler packten ihre Stände zusammen, an der Brüstung oben in der Mitte der Brücke war Dostojewskij allein. Hier hat alles begonnen, dachte er. Auf einer Insel im Sumpf der Lagune lag das Fundament eines Weltreichs. Auch Peter der Große hatte seiner neuen Hauptstadt ein viel verzweigteres Netzwerk von Kanälen geben wollen, als es dann die Gefahren durch Stürme und Fluten zugelassen hatten. Aber die Anordnung der Straßen auf der Wassiljewskij-Insel im Sumpf des Newa-Deltas, des neuen Zentrums des russischen Imperiums, erzählte noch davon, dass sie in Wahrheit nie ausgehobene Wasserwege waren. Der Blick von der Rialto-Brücke war ein lebendes Gemälde. Nur wenige Fenster der alten Paläste waren erhellt. Feierten hier österreichische Besatzer in den Sälen und Betten der vertriebenen Aristokraten wilde Feste? Oder waren auch die Österreicher im Feiern so, wie die Deutschen in ihren Gasthäusern saßen, verkniffen und steif? Dazwischen lachten sie manchmal laut auf und schlugen mit der Faust auf den Tisch, das war dann ihre gute Laune. Weit konnte man die Augen den Kanal hinunter treiben lassen, bis er hinter einer Kurve verschwand. Weite Ausblicke schienen in Venedig, bewegte man sich von seinen Rändern weg, selten zu sein. In Petersburg waren sie die Regel, da die Häuser mehr auseinanderstanden und niedrig waren. Das machte den Himmel so vorherrschend. Petersburg war eigentlich ein großer Himmel, mit etwas Bebauung darunter. Aus der heraus man immer wieder in die Ferne sehen konnte. Die langen Prospekte führten vom Zentrum sichtlich hinaus ins russische Riesenreich. Sie kündeten vom ersten Schritt an davon, dass der Weg weit sein würde. Und kam man über sie von auswärts an die Stadt heran, sah man viele Meilen voraus Zeichen des Zentrums, auch wenn sie, wie die goldene Nadel der Admiralität, fein und schlank und nicht allzu hoch waren.
Und doch dachte Dostojewskij daran, wie er am Vorabend der Abreise an der Brüstung einer Newa-Brücke gestanden und Sankt Petersburg betrachtet hatte. Irgendeine Eigenschaft lag in diesem Panorama, hatte er gedacht, die alles auslöschte, alles tötete, gleichsam auf Null stellte. Eine ganz unerklärliche Kälte ging von ihm aus, ein seltsamer Geist der Stummheit, des Schweigens, ein irgendwie stummer und tauber Geist lag ausgegossen darin. Er konnte es nicht ausdrücken … es war nicht einmal Leblosigkeit, denn gestorben war doch nur, was einmal lebendig war, aber das wusste er, seine Empfindung war nicht abstrakt gewesen, ausgedacht, sondern eine ganz natürliche, unmittelbare. Er hatte Venedig nicht gesehen, aber dort wäre es wahrscheinlich anders, war seine Vermutung gewesen. Und nun stand er hier, und seine Handflächen fühlten am Stein der Brüstung die Wärme des Tags, und mit ihr die Glut der Jahrhunderte, die diese Stadt erbaut und belebt hatten. Und ein seltsames Gefühl erfasste ihn, eine Ahnung von etwas, das er sich nicht erklären konnte. Er glaubte nicht, dass sein Eindruck von Petersburg nur seiner Erschöpfung zuzuschreiben war, auch wenn die Ärzte ihm dringend zu einem Erholungsurlaub geraten hatten. Zweieinhalb Jahre nach seiner Rückkehr aus Sibirien war er durch umfangreiche Verpflichtungen im Dienst der „Zeit“ – dem Lesen und Lektorieren von Manuskripten, Übersetzungen, öffentlichen Lesungen –, die er neben seiner eigentlichen Schreibarbeit zu erledigen hatte, am Ende seiner Kräfte gewesen. Die epileptischen Anfälle waren stärker geworden. Gegen seine chronischen Atemwegsbeschwerden wurden ihm die Wasser von Bad Gastein und Seebäder in Biarritz empfohlen. Doch ihn zog es an die Orte seiner so lange gehegten Sehnsüchte und Erwartungen, in das Land, in dem Schiller den Traum von der humanisierenden Macht des Schönen und der unersetzbaren Rolle der Kunst in der Menschheitsentwicklung geträumt hatte, in die Stadt Hugos, bei dem er zum ersten Mal realisiert sah, was er als den Hauptgedanken aller Kunst im neunzehnten Jahrhundert bezeichnete: die Wiederherstellung des untergegangenen Menschen, der zu Unrecht unter der Last der gesellschaftlichen Umstände und Vorurteile erdrückt wurde. Ein christlicher und moralischer Gedanke, wie er ihn vor Kurzem im Vorwort zur russischen Ausgabe des Romans „Notre-Dame de Paris“ formuliert hatte. Schon früh war Dostojewskij die Ordnung der Außenwelt als ein schöner Schein der Oberfläche erschienen, der etwas anderes verdeckte, das unbekannt war und furchtbar sein konnte. Daher hatte die Kunst die Aufgabe, das Verdeckte sichtbar zu machen, unter die Haut zu schauen, die Knochen aufzuzeigen, die den Menschen aufrecht hielten und bewegten, der Wahrheit näherzukommen. Die Kunst hatte die Verpflichtung dazu. Und so war er nach Europa aufgebrochen, hatte das Resthonorar der Verdichtung seiner Eindrücke im sibirischen Gefängnis Frau und Stiefsohn überlassen und raste nun schon über zwei Monate durch diesen Kontinent seines hartnäckigen Glaubens und hatte Angst, sich das Ausmaß seiner Enttäuschung und Verbitterung darüber einzugestehen. In diesem Moment befiel ihn eine solche Sehnsucht nach seiner Frau, dass er glaubte, in der Sekunde verrückt zu werden. Wie konnte er sie so lange mit ihrer Krankheit allein lassen. Hatte er nicht vor Gott geschworen, immer für sie da zu sein? Und sosehr er sich auch im Klaren war, dass die Sehnsucht nach ihr die Sehnsucht nach der Anfangszeit ihrer Verliebtheit war, und sosehr er spätestens seit gestern Abend wusste, dass sie mit ihrer Ehe an einem toten Punkt angekommen waren, wusste er im selben Moment, dass er nicht aufhören konnte, sie zu lieben, ja je unglücklicher sie miteinander waren, desto mehr würde er sich an sie schließen, bis zum Ende. Und da war es ihm schlagartig klar, dass er sofort abreisen musste, morgen früh. Sein Geld war aufgebraucht, seine Reiseenergie verpufft, da das Glücksspiel von den Österreichern verboten war, sah er keine Chance, beides wieder zu vermehren, und Venedig selbst, ihre Schönheit, ihren Reiz, er sah sie wohl, an sein Herz drangen sie nicht.
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