1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Als eines Samstags Barbara Cook auf Besuch zu ihrer Schwester fuhr, wurde daher in unserer Küche eine Ad-hoc-Sitzung des Komitees einberufen. Praktisch noch bevor sie begonnen hatte, kam mein Vater ständig hereingelaufen in der Hoffnung, sie wäre bald vorbei.
»Und wenn Barbaras Bruder kommt und den Tag über auf Graham aufpasst?«, sagte meine Mutter. »Er kann gut mit ihm umgehen.«
Mein Vater schüttelte den Kopf.
»Der ist doch unberechenbar«, sagte er im Vorbeigehen. »Was, wenn er im Garten einen seiner Wutanfälle bekommt?«
»Ich kann mich gern um Graham Cook kümmern«, sagte ich. Graham war zwar fünf Jahre älter als ich, aber ich fand, unter den gegebenen Umständen ginge es vielleicht trotzdem.
»Ach, Schatz, du kannst doch nicht auf Graham Cook aufpassen«, sagten meine Eltern praktisch unisono, als mein Vater wieder durch die Küche lief. »Du bist doch erst zehn.«
»Fast elf«, sagte ich.
»Wenn Graham wütend wird, tickt er aus«, sagte Hilary Hawkins. »Da kann man echt Angst bekommen.«
Am Ende aber erzählte Barbara Cook dem Handarbeitskomitee, wie sehr Graham sich auf den Markt freute, und so saß er, als der Tag dann kam, mit seinem roten Bus in der Hand in einer schattigen Ecke hinten im Garten neben dem Kerzenstand, machte Gurgellaute und hielt so die Leute davon ab, näher zu kommen.
Ich ging zum Stand mit den gebrauchten Spielsachen und kaufte mir einen roten Plastikbus. Mit dem setzte ich mich neben Graham, damit es normaler wirkte, einen roten Plastikbus zu halten. Ich spielte mit dem Gedanken, selbst auch Gurgellaute zu machen und die Arme ruckartig zu bewegen, kam aber zu dem Schluss, dass das zu viel Aufsehen erregen würde.
So saßen Graham Cook und ich mit unseren Plastikbussen im unerwarteten Sonnenschein nebeneinander, und er schien beruhigt und machte fast keine komischen Laute. Julia musste zwar am Glückstopf neben der Außentoilette die Stellung halten, aber sie ermunterte mich mit ihrem Julia-Lächeln.
Dann kam mein Vater und raunte mir zu, sobald Barbara Cook außer Hörweite war: »Meine Güte, steh auf. Du machst dich lächerlich. Die Leute denken noch, du wärst auch ein bisschen …«
»Ein bisschen was?«, wollte ich wissen.
»Halt ein bisschen … du weißt schon. Zurückgeblieben . Spastisch. «
»Ich bleibe hier«, sagte ich. »Aus Solidarität mit Graham.«
Da packte mich mein Vater, zog mich ruckartig hoch, als wollte er mir den Arm ausreißen, und flüsterte mir mit einer strengen, fast drohenden Stimme ins Ohr: »Du gehst jetzt rüber zum Glückstopf und hilfst deiner Schwester.«
Graham Cook stöhnte und heulte auf und versuchte wegzulaufen, und Jim Cook musste ihn im Polizeigriff festhalten.
Ich schloss mich in der Außentoilette ein und brach in Tränen aus, ich weinte und weinte, so tief saß der Schock, und als ich mit meinem roten Bus wieder rauskam, hatte sich eine lange Schlange gebildet, und Angela Dunnett sagte: »Wir wollten schon die Feuerwehr wufen. Wir dachten, du wärst eingeschlossen.«
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil Angela Dunnett so nett zu mir war und mir sogar einen Cupcake mit Buttercreme vom Kuchenstand geholt hatte, um mich zu trösten, und ich beschloss, nie, nie wieder Witze über ihr R zu machen.
Mein Freund Ian tauchte auf und kaufte aus Spaß die hässliche Puppe mit den gelben Zöpfen. Wir lieferten uns hinter der Außentoilette später ein Tauziehen – bis sie riss und die ganze Füllung herausquoll.
Danach stellte ich mich neben Julia an den Glückstopf, den roten Bus in der Hand. Julia fragte nicht, warum ich geweint hatte. Sie nahm nur meine Hand, doch als mein Vater mit rotem, wutverzerrtem Gesicht angelaufen kam, ließ sie sie wieder los. Im Vorbeigehen zischte er mir eine weitere laute Ermahnung ins Ohr: »Leg den verdammten Bus weg.«
Julia biss sich auf die Lippe und wirbelte die Sägespäne im Glückstopf auf, damit die verbliebenen Preise zum Vorschein kamen.
Alle Fröhlichkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden.
Ich erinnere mich genau an den Tag, als ich Víctor, den spanischen Priester, auf der Straße auf seinem Fahrrad traf. Wir fingen an, uns zu unterhalten, und bald sprudelte es nur so aus mir heraus, alles, was sich in mir angestaut hatte, weil ich nicht gewusst hatte, wohin damit.
Ich erzählte Víctor, dass eine Woche nach der Ermordung Melchior Ndadayes auch mein Vater Melchior gestorben war.
»Die Soldaten sind zu uns auf die colline gekommen«, sagte ich. »Und mein Vater hielt einfach die andere Wange hin, weil er den Kreislauf durchbrechen wollte.«
Ich erzählte ihm vom nächsten Mal, als die Soldaten kamen und der englische Missionar Wilfred sich vor unsere schwangere Nachbarin Honorine gestellt hatte, damit die Soldaten nicht sie, sondern ihn erschossen.
»Ich werde nie vergessen, wie er lächelte, obwohl er schon tot war«, sagte ich. »Er lag da inmitten der Narzissen, die seine Mutter aus England geschickt hatte. Ich schämte mich so sehr dafür, was unser Land ihrem Sohn angetan hatte.«
Víctor nickte.
»Meine Mutter ist dann mit den Frauen zur Müllhalde gegangen«, sagte ich, »und sie haben Narzissen aus alten Blechdosen gebastelt, um sie auf sein Grab zu legen.«
Ich holte tief Luft, denn über Claude wollte ich nicht sprechen.
Ich hatte ihm zugerufen, er solle rennen, als die Soldaten mit brennenden Fackeln kamen, aber als ich später hinter dem Busch am Fluss alle abzählte, war er nicht dabei. Wir fanden seinen verbrannten Körper zu spät, in eine Ecke gekauert.
»Sein Zwillingsbruder Wilfred hat immer noch das Seil am Fußgelenk«, sagte ich zu Víctor. »An dem er und Claude sich immer zusammengebunden hatten. Er nimmt es einfach nicht ab, und ich kann ihn nicht fragen, warum, weil er nicht mehr spricht. Kein Wort, seit Claude tot ist.«
Ich erzählte ihm von meiner Mutter, der es nicht gut ging und die keinen Arzt aufsuchen wollte, weil alle Ärzte Tutsi waren und sie ihnen nicht traute.
Immer weiter sprudelte es aus mir heraus, und Víctor nickte weiter.
Dann erzählte er mir aus seinem Leben. Von der Schule für taube und blinde Kinder, die er oben auf dem Hügel errichtet hatte. Damit sie sich nicht mehr ausgegrenzt fühlten und sich nicht mehr schämen mussten. Dann lud er mich ein, sie kennenzulernen, und ich schüttelte ihnen allen die Hände, und Víctor machte mir in seiner kleinen Küche einen Haferbrei mit Mangostücken.
»Ist Spanien wirklich da drüben?«, fragte ich. »Am Ende von Afrika und hinter dem Meer?«
Licht strömte in meinen Körper beim Gedanken an dieses Land, das real war und voller Frieden und Sonnenschein und gar nicht so weit weg.
»Es ist wirklich da drüben«, sagte Víctor.
»Und wie ist es da?«, fragte ich.
»Das Meer geht fast einmal ganz rum, und im Sommer machen die Leute Picknick am Strand und gehen schwimmen. Weihnachten und Ostern haben wir Straßenfeste, bei denen die Männer Filzhüte tragen und die Frauen gepunktete Kleider und Rosen im Haar – und wir haben einen Tanz namens Flamenco.«
»Hast du schon mal Flamenco getanzt?«, fragte ich ihn.
Víctor nickte.
»Ich war ja nicht immer Priester«, sagte er lachend.
»Ist er so ähnlich wie unsere Tänze?«, fragte ich.
»Er geht ungefähr so«, sagte Víctor.
Er stand von dem kleinen Holzstuhl auf, warf die Hände in die Luft und begann zu tanzen, wobei er die Hüften kreisen ließ und mit den Füßen aufstampfte.
»Und die Frau tanzt so …«, sagte er, und jetzt lachte er richtig, und ich lachte mit, denn er sah zum Brüllen aus mit seinem dicken grauen Bart, dem rosa Gesicht und der weiten Hose, wie er die Hüften schwang, sich im Kreis drehte und dabei sein imaginäres Kleid rascheln ließ.
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