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Die Füllung quoll aus meiner Mutter heraus.
Ich wusste es in dem Moment, als Douce aus der Hütte gerannt kam und diesen Schrei ausstieß.
Aber ich hatte nicht den Mut, mich dem zu stellen, was ich wusste.
Nicht schon wieder.
Also rannte ich hinauf zu Víctors Haus, und gemeinsam rasten wir mit seinem Fahrrad den Hügel wieder runter, ich mit angezogenen Beinen auf dem Gepäckträger. Beim Anblick von Víctors starkem Rücken mit den kräftigen Schulterblättern, dem breiten weißen Nacken und grauen Haarschopf hatte ich das Gefühl, dass diesmal, dieses eine Mal vielleicht, alles gut ausgehen würde.
Doch kaum erreichten wir die Hütte, verflüchtigte sich das Gefühl. Denn da saßen Gloria und Douce und Wilfred und Zion im Halbkreis, und vor ihnen lag meine Mutter. In gewisser Weise war es zwar meine Mutter, aber sie sah mehr aus wie ein leerer Sack.
Atme doch, dachte ich. Atme ein, aus.
Ich erinnerte mich an ihre Haut an meiner Wange.
So weich.
Zion stand auf.
»Sie geht zu Papa«, sagte er, ballte die Finger zur Faust und streckte sie dann wieder. »Das ist doch gut, oder? Dass sie bei ihm ist? Dass sie wieder zusammen sind.«
»Genau«, sagte ich und wischte mir jede Träne weg, kaum dass sie zu rollen begann, als Ältester musste ich tapfer sein.
»Ja, mein Kleiner«, sagte ich und versuchte, von irgendwo ein Lächeln aufzutreiben, »genau da wird sie sein, an dem riesigen Strom, wo der Baum steht, der jeden Monat Früchte trägt – weißt du noch? –, mit den Blättern, die zur Heilung der Völker dienen.«
»Blätter heilen keine Völker«, sagte Pierre, der gerade durch die offene Tür hereinkam. »Blätter bewirken gar nichts.«
»Außer Fotosynthese«, sagte Zion.
Zion merkte sich alles, was ich ihm beibrachte. Dass er mir zuhörte, wie ich meinem Vater zugehört hatte, gab mir Kraft. Dass er mich viel mehr liebte, als die anderen es taten, gab mir eine Bestimmung. Mit ihm an der Seite hatte das Weitermachen einen Sinn.
»Ja, Zion«, sagte Víctor. »Deine Mutter ist in der ewigen Stadt angekommen.«
»Wie mein Name!«, rief Zion.
»Genau, wie dein Name!«, sagte Víctor. »Und jetzt tanzt sie mit deinem Vater über die goldenen Straßen.«
»Was denkst du?«, fragte Pierre an Víctor gewandt, und er klang gereizt, wollte von goldenen Straßen nichts hören, »was hat sie umgebracht?«
»Wahrscheinlich Cholera«, sagte Víctor.
»Hätte der Arzt sie retten können?«, fragte ich Víctor.
Er legte mir den Arm um die Schulter.
Pierre hakte nach: »Und, hätte er?« Sein Tonfall gab mir das Gefühl, dass alles, was in unserem Leben passierte, meine Schuld war.
»Tja, Cholera ist eine verzwickte Sache«, sagte Víctor.
Dann grub er ein Loch in die Erde, und wir alle dankten nacheinander Gott für unsere kleine vogelzarte Mutter Aurore, deren Name Morgenröte bedeutete. Wir versammelten uns um das Grab, und während Víctor es mit roter Erde füllte, sang er uns vor, damit wir einstimmten: Die Freiheit ist nah, die Freiheit ist nah, die Freiheit ist nah, o ja, so nah!
Mittendrin lief Pierre einfach davon.
Ich konnte ihn verstehen.
Die Freiheit schien alles andere als nah.
Mit jedem Jahr, das verstrich, fühlten wir uns weniger frei.
Je älter man wurde, fiel mir auf, umso mehr musste man aufpassen, was man sagte. In der ersten Klasse konnte man noch mit allem Möglichen herausplatzen, aber spätestens nach der Grundschule musste man jedes Wort vorher abwägen.
Zum Beispiel konnten wir in der Siebten und ein paar Jahre danach das Wort Rasenmähen nicht mehr laut sagen. Nachdem Robin Fox die Klasse irgendwann in die Welt des eindeutig Zweideutigen eingeführt hatte, traute sich praktisch keiner mehr, in der Schule überhaupt den Mund aufzumachen. Bei den Mädchen der Klasse wuchsen immer mehr Haare an immer heikleren Stellen, und Robin Fox kommentierte unsere struppigen Beine und Achseln mit den Worten: »Da ist wohl am Wochenende mal wieder Rasenmähen angesagt!«
Was blieb uns übrig, als unser gesamtes Taschengeld für Einwegrasierer, Epiliercremes und Wachsstreifen auszugeben, die nie was brachten? Unfassbar im Nachhinein, was für eine Macht er über uns hatte.
Robin Fox hatte vier ältere Brüder und wusste daher, wie man normale Sätze durch das Heben einer Augenbraue ins Sexuelle kehren konnte. Unser ganzes Leben lang hatten wir »Kommst du?« fragen können, ohne uns was dabei zu denken. Aber das war einmal. Jetzt sahen wir immer Robin Fox’ hochgezogene Augenbraue, und wenn genug Publikum da war, bekamen wir obendrauf den vorgetäuschten Orgasmus aus Harry und Sally zu hören, und zwar in voller Länge. Mit einem am Esstisch wild strampelnden, stöhnenden und keuchenden Robin Fox.
Ich erinnere mich an einen Tag im Frühling kurz vor unserem dreizehnten Geburtstag. Mein Vater mähte den Rasen ohne einen Hauch von Zweideutigkeit; meine Mutter kümmerte sich (dito) um die weichen Kurven der Schnittkanten; und Julia war (unbehelligt von Robins hochgezogener Braue) am Unkrautjäten.
Auch ich dachte nicht an Robin Fox. Das Glück der Sommerferien bestand auch darin, Ruhe vor ihm zu haben.
Nein, ich dachte an Lola Alvárez und ihren Satz »Ihre Unkräuter sind meine Blumen«.
Die »Unkräuter« mit ihren hübschen blauen Blütenblättern, die für mich haargenau wie Blumen aussahen, lagen jetzt auf dem Boden und warteten darauf, in grünen Plastiksäcken zur Mülldeponie gefahren zu werden, um dort in einem gelben Metallcontainer zu enden.
Ich war in meinem stickigen Zimmer geblieben, um mich vor der Ödnis der Gartenarbeiten zu drücken. Gerade beobachtete ich Pallys weiße Taube, die in dem cremeweißen Taubenschlag wohnte, den Fermín in ihrem Garten gebaut hatte. Die Taube kam oft zu Besuch und flatterte dann zwischen den samtigen Blütenblättern des Magnolienbaums herum, den mein Vater exakt in die Mitte unseres Vorgartens gepflanzt hatte. Von Zeit zu Zeit maß er alles noch einmal nach, nur um sich daran zu erfreuen, wie genau er gemessen hatte.
Heute war die Taube über unser Haus hinweg zu den drei Kirschbäumen im hinteren Garten geflogen. Sie flatterte von Baum zu Baum und weiter zum Garten der Cooks, wo sie oben auf Grahams Schaukel landete. Die stand schon seit Ewigkeiten da, aber ich hatte bisher kaum darauf geachtet.
Ich hatte zwar gesehen, wie Barbara Cook Graham – im Regen – in dem riesigen Gitterschaukelsitz anschubste, und ich hatte auch gesehen, wie Jim Cook ohne Hemd mit seinem großen Ballonbauch vor der Schaukel stand und dabei grölte: »Hey ho and up she rises.«
Aber als ich an diesem Tag aus dem Fenster blickte, fiel mir auf, dass ich noch nie jemanden auf der zweiten, normalen Schaukel neben Graham hatte sitzen sehen. Noch nie in seinem ganzen Leben.
Also schlich ich mich nach unten und aus dem Haus, lief über den schmalen, grau gepflasterten Weg unserer Auffahrt nach nebenan und fragte Barbara Cook, ob Graham Lust hätte, mit mir zu schaukeln.
Graham war in seinem komischen Laufstall, wo er vor und zurück wippte und dabei ein bisschen klang wie ein Staubsauger, den man auf dem Teppich hin und her schiebt.
Barbara Cook sprach ihn an und führte ihn dann am Arm in den Garten. Es war gar nicht so leicht, ihn in die Schaukel zu bekommen, aber als er mit seinem roten Bus erst einmal drinsaß und zu schaukeln begann, hörten die Staubsaugergeräusche auf.
Barbara schob Graham an, und auch ich fing an zu schaukeln, langsam erst, vor und zurück im Takt mit ihm, dann immer höher. Von oben sah ich meine Mutter, meinen Vater und Julia im Garten graben.
Und runter.
Und hoch – alle noch am Graben.
Und runter.
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