Und sollten die Engel ausbleiben, würde ich die beiden eben mit nach Spanien nehmen, wo ihnen kein Mann was antun konnte. Ich würde ihnen ein kleines weißes Steinhaus am Wasser bauen und Hängematten zwischen den Palmen aufhängen, und darin könnten sie liegen und schaukeln, während ich im blauen Meer fischen ging. Und abends würden wir alle zusammen ums Feuer sitzen und Fisch braten und spanische Gedichte lesen.
Unsere Eltern wollten, dass Julia und ich mit Französisch weitermachten. Aber die Hedley Heights, unsere neue Schule, bot zum ersten Mal in der Achten auch Spanisch als Wahlfach an. Aber nur wer zu den Klassenbesten gehörte, durfte beide Sprachen gleichzeitig belegen.
Julia gehörte nicht zu den Klassenbesten und blieb bei Französisch. Das wollte sie zwar eigentlich nicht, da sie wie ich in Diego aus Nummer 13 verliebt und dazu grottenschlecht in Französisch war, aber sie machte wie immer bereitwillig, was unsere Eltern wollten.
»Es tut mir weh, wenn sie enttäuscht gucken«, sagte sie.
»Das machen sie, um dich zu manipulieren«, sagte ich.
Wer wollte, konnte auf der Hedley Heights in der Mittagspause auch noch Latein machen. Ich war schon seit einem Jahr dabei und verpasste damit den Kochkurs, einer der wichtigsten Vorzüge der Lateinstunden. Am Anfang. Bevor ich alles andere daran toll fand.
Meine Mutter hatte uns erst beide für den Kochunterricht eingetragen, Kochen war ja ihr Ding. Mir war aufgefallen, dass manche Leute wegen meines Mädchenseins glaubten, Kochen wäre auch mein Ding. Um mit dem Missverständnis aufzuräumen, hielt ich es für das Klügste, niemals kochen zu lernen. Weder im Kochkurs noch bei den verschiedenen Gelegenheiten, wenn meine Mutter es zu Hause versuchte.
»Ach, Augusta«, sagte sie, »was wird dir denn Latein später bringen?«
»Vielleicht werde ich Professorin in Cambridge«, sagte ich.
»Professoren müssen auch mal kochen«, sagte meine Mutter.
Und kapierte wie immer gar nichts.
»Was willst du bloß mit all den Wörtern anstellen, auf die du so versessen bist?«, sagte meine Mutter.
»Warts nur ab«, sagte ich.
Nun saß ich also allein im Spanischunterricht, und España schwirrte und tanzte in meinem Kopf, leicht wie eine Fee, wie ein Schmetterling, wie Frühlingsgefühle.
Und schon meldete ich mich und fragte den Lehrer nach dem spanischen Wort für Fee. Ich konnte nicht anders. Und ich wollte gar nicht wissen, wie man Ich heiße Augusta auf Spanisch sagt, worauf die ganze Stunde offensichtlich hinauslief.
»Fee oder Elfe – hada «, sagte der Lehrer, und sein Mund war weich wie ein Knautschsack, als er es sagte. Ich war gespannt, ob ich das mit meinem Mund auch anstellen konnte, das d bis zum Verschwinden erweichen.
»Oder duende vielleicht«, sagte der Lehrer, »was Kobold bedeutet, aber eigentlich unübersetzbar ist.«
Unübersetzbar, ich spitzte die Ohren – was für ein wunderschöner, komplizierter Gedanke. Ich speicherte ihn ab für später und hoffte, auch unübersetzbar zu sein.
»Gerade erst ist ein Buch namens Duende erschienen«, sagte der Lehrer. »Von Jason Webster – vielleicht wäre das was für dich.«
Duende – ich erfühlte das Wort auf meiner Zunge, versuchte, den Lehrer nachzuahmen.
»Duende«, sagte der Lehrer, »ist dieses …«
Er zögerte.
»Dieser …«
Wir starrten ihn gebannt an.
»Dieser Moment der Ekstase.«
Er hielt inne.
Und ich dachte, ich muss es finden, dieses Ding, das fehlt, was immer es ist.
Ich wusste genau, wo ich es finden würde. Das, was fehlte. Es war oben, Richtung Norden – ich wusste es einfach.
Ich lief den Hügel hinauf zu Víctor, der in seinem Gemüsegarten zugange war. Denn ich hatte mich entschieden.
»Wir haben wieder einen Hutu als Präsidenten, Parfait«, sagte er. »Sie teilen sich wirklich die Macht – und vielleicht ist der Frieden endlich in Sicht.«
Ich sah zu, wie er, auf Knien hockend, die großen, zähen Blätter von einem Brokkolistiel abzupfte und in einen Eimer warf, die kleinen baumartigen Köpfe in einen anderen, und dachte nur, der neue Präsident interessiert mich nicht.
Die Hühner liefen gackernd durch den Matsch vor dem Gehege, und Víctors blinde Kinderschar tanzte durch den Garten, wobei sie ihre weißen Stöcke schwangen und skandierten: »Linker Fuß vor und der Stock nach rechts, rechter Fuß vor und der Stock nach links . «
»Ich hab mich entschieden, Víctor«, sagte ich. »Ich werde in dein Land gehen und mir da ein Zuhause aufbauen.«
»Ach, wirklich?« Víctor ließ sich auf die Fersen sinken und zwinkerte mich an.
»Ich sehe keinen Sinn darin, hierzubleiben«, sagte ich.
»Ein toller Plan, Parfait«, sagte Víctor. »Aber für deine erste Reise ist Spanien vielleicht etwas ehrgeizig. Es sind achttausend Kilometer.«
»Wir gehen einen Schritt nach dem anderen«, sagte ich, wütend über Víctors oberlehrerhaften Ton, darüber, dass er mich nicht ernst nahm. »Ist doch egal, wie lang es dauert. Hier hält uns nichts.«
»Du weißt, dass da ein Meer ist zwischen Afrika und Spanien?«, fragte Víctor, als wäre ich ein Idiot.
»Aber ein sehr kleines Meer«, sagte ich, ohne zu lächeln. »Ich hab es mir im Atlas angeguckt, und es ist mehr wie ein Fluss. Von Tanger aus können wir mit dem Boot übersetzen. Warst du da schon mal?«
»Da war ich tatsächlich schon einmal«, sagte Víctor.
»Wann war das?«
»Bevor ich hierherkam, ganz am Anfang meiner Reise durch Afrika.«
»Und was hast du da gemacht?«
»Bei einem Freund gewohnt – einem Priester, am Hafen …«
Víctor verstummte einen Moment und schloss die Augen.
»Aber nachts ist es da gefährlich, Parfait, da sind Gangster unterwegs, da treibt man sich nicht allein herum, zu keiner Tageszeit …«
»Also ist dein Freund noch da?«, fragte ich.
»Ich glaube schon«, sagte er.
»Du glaubst es, oder du weißt es?«, fragte ich. Mir war klar, dass er mich von meinem Plan abbringen wollte.
Víctor zupfte Brokkoliblätter.
»Sag nicht, du weißt es nicht, nur um mich am Gehen zu hindern«, sagte ich. »Dein Freund wird uns doch helfen, meinst du nicht? Wenn ich sage, dass ich dich kenne.«
Víctor machte ein zerknittertes Gesicht.
»Vielleicht will ich dich einfach nicht verlieren«, sagte er. »Du hast doch gerade angefangen, hier auszuhelfen, fährst den Transporter …«
Er ließ den Satz ins Leere laufen.
»Du gibst mir doch seinen Namen und seine Nummer, oder, Víctor?«, sagte ich. »Ich hab das Gefühl, der Plan nimmt Gestalt an.«
»Also, zuallererst«, sagte Víctor, »müssen wir dir wohl Spanisch beibringen. Englisch kannst du ja schon …«
»Das hat mir mein Vater beigebracht. Und die Baptisten.«
»Und Spanisch ist gar nicht so viel anders als Französisch.«
»Also, fangen wir an?«, fragte ich.
»Fangen wir mit den Verben an.«
»Mein Vater hat immer gesagt, ich lerne schnell«, sagte ich. »Ich sauge alles auf wie ein Schwamm, hat er gesagt.«
Und das stimmte auch – wenn ich wollte, konnte ich stundenlang bei der Stange bleiben, und mit etwas Wiederholung schien ich alles zu behalten.
Die Hühner gackerten weiter, Víctor gärtnerte weiter, die blinden Kinder schwangen weiter im Hof ihre Stöcke, und ich hockte mich mit meinem Herzen voller Hoffnung unter einen Eukalyptusbaum und sagte auf: »Hablo, hablas, habla, hablamos, habláis, hablan.«
Mr Sánchez sammelte sich.
» Duende kann man beim Flamenco erleben, wenn alle Bedingungen stimmen – wenn die Gitarre und der Gesang und der Tanz mit dem Klatschen der Menge und der nächtlichen Hitze verschmelzen. Dann plötzlich, manchmal nur ganz kurz, wie beim Feuerwerk, nur viel besser, entlädt sich eine berauschende Energie, und die ganze Atmosphäre verändert sich. Und neben dir murmelt vielleicht jemand ganz leise, im Schutz des Dunkels, aus dem Innern des Zaubers: Olé .«
Читать дальше