In diesem Augenblick klingelte es, und sie hörte Conrads Stimme, wie er lustig mit Gerda scherzte. Ein paar Sekunden später — Gerda war doch wirklich eine ungeschickte Pute, daß sie es nicht fertig bekam, Conrad in ihr Zimmer zu bugsieren — trat Conrad ein. Er lachte Ilse an. Sie sagte wichtig, daß sie noch ein paar ärztliche Anweisungen zu geben habe. Klenski aber, ein fanatischer Anhänger der absoluten Wahrheit, sagte strahlend: „Aber wir sind doch längst fertig.“ Und indem er Conrad übertrieben heftig die Hand drückte: „Ich freue mich von ganzem Herzen, daß Sie zurück sind.“ Conrad wiederum behauptete, aufrichtig lügend, es sei ihm eine besondere Freude, Herrn Klenski kennenzulernen, von dem Ilse ihm schon so viel Schönes berichtet habe. Ob er auch an Hydropsie, an russischem Wasser, gelitten habe? Man sähe ihm nicht mehr das geringste an. Eine wundervolle Medizinerin, die Ilse.
Klenski stimmte strahlend zu und setzte zu einer längeren Erklärung an, daß er in keiner Weise unter dem Kriege gelitten habe und alles Unglück wie durch ein Wunder an ihm vorübergegangen sei, und das bißchen Krankheit ... Er wies mit einer zärtlichen Bewegung auf Ilse, die ihn mit erstaunlicher Heftigkeit unterbrach und ihn ziemlich grob einlud, eine Tasse Tee mitzutrinken. „Mit uns“ zu trinken, sagte sie wörtlich und errötete dabei unwillig. Dieses „mit uns“ gab ein völlig falsches Bild.
Klenski lehnte herzlich ab. Er habe noch viel zu arbeiten und gerade genug von Ilses kostbarer Zeit gestohlen. Er drückte Conrad noch einmal kräftig und herzlich die Hand. Man würde sich ja öfter sehen. Ob Conrad vielleicht Ilse gleich am nächsten Tag zum Mittagessen bei ihm begleiten wolle? Conrad verbeugte sich unentschieden, da Ilse nichts sagte. Sie hakte den Maler unter und zog ihn auf den Flur hinaus.
„Ein reizender und bedeutender Mann“, sagte Klenski draußen und drückte freundlich Ilses Arm. „Natürlich hat er es ein bißchen schwer, sich wieder ins Leben zurückzufinden.“ Ilse starrte vor sich hin, als hätte sie nicht zugehört. Dann sagte sie ablehnend: „Himmel ja ... natürlich hat er es nicht leicht! Aber wer hat es schon leicht. Sie etwa? Oder Gerda? Oder ich? Waren wir nicht auch ganz hübsch gefangen oder auf der Flucht und im Hunger und müssen zusehen, daß wir uns zurückfinden?“ Sie beachtete nicht sein erstauntes Gesicht. Sie schob ihn ganz einfach hinaus, schloß die Tür hinter ihm, stand einen Augenblick verdrossen grübelnd. Sie hängte ihren blendendweißen Ärztekittel an die Garderobe. Sie besah sich mißbilligend im Spiegel. Warum, so dachte sie, habe ich mir eigentlich die weiße Seidenbluse angezogen und den grauen Faltenrock? Abgesehen davon, daß der Rock schon wieder zu eng ist? Gerda hat ganz recht. Ich darf nicht soviel essen. Dabei ißt sie viel mehr. Na ja, mancher kann eben tun, was er will, und es ändert ihn nicht. Halt! Der Satz war nicht auf ihrem Mist gewachsen. Das war ein echt conradscher Satz. Ein leichtsinniger Satz, mit dem die Habgierigen und Lasterhaften alles entschuldigen konnten. Sie blickte böse in Richtung des Sprechzimmers. In diesem Augenblick überquerte Gerda, das Tablett mit dem Tee in den Händen, den Flur. Sie lächelte Ilse beruhigend zu. Ilse sagte bockig: „Warum hast du Conrad ins Ordinationszimmer geschickt? Nächstens wird er noch reinplatzen, wenn nackte alte Frauen dastehen.“
Gerda sah sie unschuldig an: „Jürgen und Conrad mußten sich ja doch mal begegnen ... falls es Jürgen nicht vorzieht, wegzubleiben.“
„Ich wüßte nicht, warum Jürgen das vorziehen sollte“, sagte Ilse heftig. Gerda klinkte mit dem Ellenbogen die Tür auf. Dabei sagte sie schnippisch: „Er ist ziemlich taktvoll, der brave Jürgen. Und es ist nicht jedermanns Sache, sich am Glück des anderen selbstlos zu erfreuen.“ Damit wischte sie in die Tür, ehe Ilse etwas erwidern konnte. Sie blickte Gerda mit zornigen Augen nach, dann ging sie endlich ins Ordinationszimmer.
Conrad saß auf ihrem Schreibtischstuhl und spielte mit ihrem Federmesser Fangball. Er wirbelte es in der Luft herum und sagte triumphierend: „Sechsmal dreht sich’s schon. Wenn du noch länger geblieben wärst, hätte ich es auf achtmal gebracht.“ Ilse nahm ihm das Messer weg. Sie fand sein Jonglieren in diesem Augenblick unangebracht. Außerdem hatte sie es schon früher nicht leiden können, wenn er sich allzu familiär bei ihr breit machte und ihre etwas pinslige Ordnung auf dem Schreibtisch zerstörte. „Entschuldige“, sagte Conrad, „aber du hast das Messer nicht rechtwinklig hingelegt, sondern schräg. Oder gefällt dir das jetzt?“
Ilse schob brav das Federmesser gerade. „Der Tee ist fertig“, sagte sie. „Komm.“ Conrad reichte ihr mit einer Verbeugung seinen Arm. Sie übersah es unfreundlich. Er sagte: „Ein reizender Mensch, dieser Klenke, oder wie er heißt. Ein bißchen ätherisch. Ja?“
„Er heißt Klenski und findet dich auch reizend“, murrte Ilse, „und sogar bedeutend.“
„Scharfsinnig ist er auch noch“, alberte Conrad. „Aber im Ernst: er gefällt mir. Hübsch und zart und so ein rührend kräftiger Händedruck, als wollte er einen gleich an die schmale Brust ziehen. Warum hast du mir noch nichts von ihm erzählt?“
„Ich dachte mir gleich, daß du ihn nicht leiden kannst“, sagte sie heftig, „für den Durchschnittsmann ist so ein in sich geschlossenes Wesen nicht verständlich.“
Conrad parierte den Hieb geschickt: „Für die Durchschnittsfrau natürlich auch nicht. Aber du bist eben keine Durchschnittsfrau.“
„Ich bin sehr durchschnittlich“, sagte Ilse hart, „das hast du leider nie kapiert“, und um einzulenken, setzte sie hinzu: „Jetzt zum Beispiel habe ich Hunger und möchte Tee trinken.“ Sie gingen versöhnt in Ilses Zimmer hinüber.
Aber dieser Besuch ließ sich nicht mehr ins richtige Gleis schieben. Sie versuchten es vergeblich. Ilse gab Conrad ein paar ärztliche Anweisungen. Sie schrieb ihm ein Herzstärkungsmittel auf. Sie bat ihn, die Zigaretten wenigstens zu zählen, wenn er das Rauchen nicht aufgeben könne. Conrad hingegen erzählte von seiner Ankunft in Hamburg. Er erinnerte Ilse vorsichtig, daß er sie erst hatte suchen müssen. Daß er zwar gewußt habe, daß sie in Hamburg wohnte. Aber gleich nach der Ankunft hatte ihn eben jene unüberwindliche Schlappheit und Müdigkeit gepackt, und an die ersten Wochen im Krankenhaus konnte er sich überhaupt nicht erinnern. Doch ... eine Schwester Anna war da gewesen, sechzigjährig, mit einem hervorragend gearbeiteten Gebiß, das sie dauernd zu einem gekünstelten Lachen entblößte, um so die Falschheit beamteter Herzlichkeit zu demonstrieren. (Neunzig Mark bei freier Station, wer sollte da wohl von Herzen herzlich sein!) Und dann eben dieses fabelhafte Glück, beim ersten Ausgang über Hannes Hohmann zu stolpern und an ihm die männliche, grobianischkameradschaftliche Hilfsbereitschaft kennenzulernen.
Ilse hörte nicht recht zu. Sie bediente den Toaströster. Sie schob Conrad die fertig gestrichenen Scheiben zu (was sie früher auch getan hatte). Sie entzündete die Deckenlampe, eine nicht sehr hübsche Alabasterschale, die ein grelles, honiggelbes Licht über den Raum warf, über die kantigen, gut polierten Möbel, über die breite Bettcouch, an deren Fußende eine hellgrüne Karlsbader Decke lag, über die Glasvitrine mit den Büchern und über ein schneeweißes Schaffell. „Du hast es sehr hübsch hier“, sagte Conrad anerkennend. Aber es gefiel ihm nicht sehr gut. Zimmer einer Ärztin, berufstätig, tüchtig stand in unsichtbaren Buchstaben über dem Raum. Er unterbrach seine Erzählungen von Hannes und den ersten Wochen in Hamburg. Er spürte, daß er Ilse nicht überzeugt hatte. Er wollte ihr noch erklären, warum er ihre Adresse so lange gehabt hatte, ohne sie zu benutzen. Endlich mußte die blödsinnige Emmy-Geschichte weggeräumt werden.
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