„Liebe Hilla ... jetzt dreht sich mir alles im Kopf. Hat sie nun recht oder hat sie unrecht?“
Hilla sagte erregt: „Recht hat sie. Völlig recht. Und das ist doch die Hauptsache. Ob die Welt in Flammen aufgeht oder ein Leben zu Scherben zerplatzt: Recht muß man haben. Oder meinen Sie, mein Vater hatte nicht recht? Hundertprozentig recht hatte er mit allen seinen Vorwürfen! Meine Mutter war schwach, sensibel, sentimental. ‚Nimm dich zusammen. Sei fröhlich. Freue dich am Jasmin und krieg davon keine Kopfschmerzen.‘ Er hatte recht. Sie kriegte nur zufällig doch vom Jasmin Kopfschmerzen.“
„Hm ... Ja ... Verstehe. Und was soll ich nun machen?“ sagte Conrad. „Soll ich etwa Ilse zu beweisen versuchen, daß nichts an dieser Emmy dran war?“
„Waren Sie Ilse immer treu?“
„In der Überzeugung ... ja, in der Wirklichkeit ... nicht immer.“
„Na also ... dann stürmen Sie auch gefälligst nicht gegen Emmy an. Im übrigen ist Ilse ein prachtvoller Kerl. Nehmen Sie sie doch, wie sie ist.“
Conrad lachte: „Und ich? Wo bleibe dann ich, wenn sie mich nicht nimmt, wie ich bin?“
Hilla schloß herzlich: „Sie verlangen doch nicht etwa einen Rat von mir? Ich weiß nämlich keinen.“
Damit ging sie hinaus und ließ den verdutzten Conrad auf seinem Bett sitzen. Er schüttelte den Kopf. Er gähnte. Er war plötzlich bleiern müde. Er legte sich aufs Bett und schlief sofort ein. Er schlief schwer und tief. Er hörte nicht, daß Christina eine Stunde später an seine Tür klopfte, um ihm einen Tee zu bringen.
Christina klopfte zwei-, dreimal. Sie ging zu ihrem Tisch zurück. Sie begann zu zeichnen. Zwei Tassen standen neben ihr. Sie trank erst die eine, dann lächelnd die andere. Merkwürdig: dieser Mann, dieser etwas brummige, schlecht angezogene, schweigsame Mann fehlte ihr. Wollte sie etwas von ihm? O nein, keineswegs. Aber sie fühlte sich in seiner Nähe wohl, weil er auch nichts von ihr wollte. So müßten ... so sollten die Menschen sein. Nichts voneinander wollen. Zwei Stunden später klopfte sie noch einmal. Er antwortete wieder nicht. Sie löschte das Licht und ging fröstelnd in den Regen hinaus.
Ehelicher Streit
Die Sperlinge von Wandsbek fiepten munter. Denn es war noch einmal warm geworden. Selbst jetzt gegen den Sonnenuntergang zu konnte man ohne Mantel über die Straße gehen, und wenn man, wie sehr viele Wandsbeker es taten, den Garten schlafen legte, wenn man also den Kompost eingrub, die Dahlienwurzeln und Montbretien aus der Erde holte, die kleinen Bäume und Büsche beschnitt, dann mußte man die Jacke ausziehen und sie an die, für diesen Zweck so praktischen, Eisenlanzen der Gartenzäune hängen. Schade, daß die Sonne schon um halb sechs Uhr unterging. Es war übrigens an diesem Tag ein besonders schöner Sonnenuntergang, zartrosa mit Nebel gemischt, mit einem sanften bläulichen Nebel, der noch durch die Dampfschwaden der in fast allen Vorgärten brennenden Unkrautfeuerchen verstärkt wurde. Der Schein des Abendrotes malte die Backsteinhäuschen mit einem sanften Rot an. In dieser Beleuchtung sahen sie ganz erträglich aus, und man konnte sich zur Not mit jenen längst verstorbenen Architekten und Maurermeistern versöhnen, aus deren krausen Gehirnen diese abscheulichen Gebilde entstanden waren. Eine Stimmung von Friede und Versöhnlichkeit lag über der Straße. Seit Jahren zum ersten Male waren die Menschen satt. Die meisten hatten Kohlen und Kartoffeln im Keller, und sie brauchten sich einmal nicht vor dem Winter zu fürchten.
Der hübsche Sonnenuntergang schien auch in Ilses Sprechzimmer, und auch hier herrschte ein sanfter Friede. Ilse saß an ihrem Schreibtisch und schrieb in ihrem Rezeptblock. Hinter ihr zog sich gerade der letzte Patient seine Jacke über und band sich seinen Schlips, eine kleine hellblaue Schmetterlingsschleife. Es war der Maler Jürgen Klenski, ein zierlicher, wohlgebildeter Mann von unbestimmbarem Alter. Die braunen, blanken Augen waren knabenhaft heiter, die Schläfen silbergrau. Das dunkle, lockige Haar war voll wie bei einem Dreißigjährigen. Das schmale Gesicht zeigte die Reife und Geschlossenheit eines Fünfzigjährigen, und der kleine, graue Spitzbart ließ ihn noch älter erscheinen. In Wirklichkeit war er fünfundvierzig Jahre alt und hatte sich durch eine fünfundzwanzigjährige intensive Arbeit einen Ruf erworben, der so klein und zierlich war wie seine Statur und ihn nur sehr zur Not ernährte. Zum Glück hatte er von seinem Vater ein kleines Häuschen geerbt, das die Bomben und Feuersbrünste verschont hatten, ein Häuschen, das jetzt mitten zwischen Trümmern drei Straßen weiter unter dem Schatten von zwei großen Trauerweiden stand. Klenski bewohnte ein kleines Atelier unter dem Dach. Das übrige Haus war vermietet, und so konnte er sich durchschlagen. Ilse wandte sich jetzt zu Klenski um: „Ich bin mit Ihnen recht zufrieden, Jürgen“, sagte sie freundlich, „wenn Sie weiter streng diät leben, werden wir mit dem Asthma fertig werden.“
Klenski setzte sich auf den Rand des Schreibtisches. Das sah beinahe übermütig aus, während das Rot des Sonnenuntergangs seinem Gesicht etwas melancholisch Greisenhaftes verlieh. „Ich werde dann ein Heiligenbild von Ihnen malen“, sagte er mit seiner angenehmen, hellen Stimme, „und es in irgendeiner Kapelle aufhängen.“
Ilse lachte: „Das können Sie ruhig tun. Niemand wird mich auf Ihren Bildern erkennen.“
„Ihre Kollegen, die Heiligen und Heiler, werden Sie schon erkennen“, meinte Klenski, „denn die sehen ja nicht nur mit den Augen des Leibes, sondern auch mit den Augen der Seele und des Geistes.“ Ilse nickte: „Ich weiß schon, ich bin ein unbeseeltes Ding. Manchmal aber rühren mich Ihre Farben. Farbtöne sagt man ja wohl, und ich kann sie auch hören. Aber ich würde gern erkennen, was auf Ihren Bildern ist. Schrecklich, nicht wahr?“
Jürgen schüttelte den Kopf: „Gar nicht schrecklich. Nur: wenn Sie erkennen wollen, sind Sie bei meinen Bildern an der falschen Adresse. Da müssen Sie schon zu den Philosophen gehen. Und die werden auch immer dunkler und verdunkeln die Menschen mehr, als daß sie sie erleuchten. Und was die Seele angeht, Ihre Seele, verzeihen Sie, aber die sitzt hinter Gittern.“
Ilse fühlte sich ertappt. Sie hatte an Conrad gedacht, an das dumpfe, winzige Zimmer mit den vergitterten Fenstern. Sie hatte gerade beschlossen, es Klenski zu sagen, daß Conrad aufgetaucht war. Sie mußte es ihm sagen. Mußte? Warum eigentlich? Was ging es Conrad an, daß Jürgen sie liebte? Jürgen hatte es ihr zwar nie gesagt, aber sie wußte es, und wenn sie es nicht gewußt hätte: Gerda hatte oft genug über den „Troubadour mit dem Pinsel“ gespottet. Männer hatten es schwer, Gerdas Achtung zu gewinnen. Die robusten verachtete sie, und die zarten verspottete sie.
„Denken Sie, mein Mann ist zurückgekommen“, sagte Ilse.
Kienskis Gesicht veränderte sich nicht. Er versuchte seiner Stimme einen freudigen Klang zu geben: „Und das sagen Sie mir erst jetzt? Gratuliere. Wo ist er denn?“
„Er wohnt bei Freunden in Blankenese“, berichtete Ilse sachlich.
„Ja, ja ... hier ist kein Platz. Wie geht es ihm denn? Nicht gut wahrscheinlich. Na, Sie werden ihn schon wieder auf die Beine kriegen.“
„Auf die Strümpfe“, verbesserte Ilse.
Klenski sprang vom Schreibtisch herunter. „Ich halte Sie schon viel zu lange auf“, sagte er munter, „jedenfalls freue ich mich für Sie und bin sehr gespannt auf ihn. Ein Mann, den Sie geheiratet haben! Ich denke ihn mir großartig.“
Ilse hakte ihn unter und brachte ihn zur Tür: „Darf ich mir mal Ihre neuen Bilder ansehen?“ fragte sie freundlich.
Sie streckte ihm beide Hände hin. Sie wollte, daß er schnell ginge; denn Conrad hatte sich zu einem Spät-Tee angesagt, und sie wollte nicht, daß die beiden sich begegneten. Warum eigentlich nicht? Nun — warum sollten sie sich begegnen? Sie bewohnten nach Ilses Meinung zu verschiedene Welten. Der zarte Maler, ätherisch im Wesen und Werk, und Conrad, der gar zu sehr der Welt und ihrer Sinnlichkeit zugeneigt war. So etwa dachte sie in ihrer geraden und darum so oft vorbeischießenden Denkart. „Ich komme vielleicht schon morgen mittag vorbei“, sagte sie abschließend, „da ist doch das beste Licht, nicht wahr?“ Aber Klenski hatte es nicht so eilig, wegzukommen. Er bat sie, doch bei ihm zu essen, und schlug die verschiedensten Speisen aus seinem vegetarischen Küchenzettel vor, die er für Ilse zubereiten wollte. Er kochte nämlich vorzüglich und fand, daß man für jeden Menschen nach seiner Natur kochen müsse. Er wurde beinahe streng, als Ilse sagte, für sie als alleinstehende Frau sei so viel Aufwand und Nachdenken nicht nötig. Ihr sei es völlig einerlei, was sie esse.
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