„Ach, Conrad“, seufzte Ilse, „du hast ein gutes Gedächtnis. Aber manchmal irrst du dich. Ich habe nur gesagt — und ich weiß auch noch, wann es war, im letzten Jahr vor dem Krieg, nach deinem Vortrag über das Dämonische —, ich habe gesagt, daß die Psychologen geheimnisvoll von der Dunkelheit flüstern, und oft ist es nur Dreck.“
„Ja — das hast du gesagt“, gab Conrad bereitwillig zu, „und wir sind ja nun eine Weile durch eine dreckige Dunkelheit marschiert, und das Dämonische hat uns ganz hübsch gebeutelt.“
„Ich habe viel daran denken müssen, was du damals schriebst“, sagte Ilse weich, „in manchem hast du recht behalten und nicht ich.“
Conrad sah sie erstaunt an. Zum ersten Male gab Ilse zu, daß sie sich geirrt, daß sie von ihm gelernt hatte.
Ilse kramte aus ihrem Täschchen ein silbernes Zigarettenbüchschen. Sie schob es Conrad hin und steckte sich selbst eine Zigarette an. Conrad tat, als ob er es nicht bemerkte, daß sie, die früher über das Rauchen soviel gezetert hatte, nun selber rauchte. „Gerda qualmt wie ein Schlot“, sagte sie entschuldigend, „auf die Dauer paßt man sich an. Man ist eben nur ein schwacher Mensch.“ Conrad lachte: „Als schwacher Mensch gefällst du mir ganz besonders gut, Ilseken.“ Sie errötete. Wenn er Ilseken sagte, mochte er sie gern. Sie erhob sich und legte ein Brikett auf den kleinen Kanonenofen. „Kalt“, sagte sie, „frierst du nicht? Ach nein ... dir ist ja natürlich immer zu heiß.“ Mit einem geschickten Griff holte sie das Brikett, das schon ein bißchen dampfte, aus dem Ofen. Conrad versuchte ihr die Kohle zu entreißen. Sie kabbelten sich ein bißchen. Conrad siegte und warf das Brikett wieder ins Feuer. „Du sollst nicht frieren“, sagte er befriedigt und etwas atemlos.
„Aber ich weiß doch von meinen Patienten, daß sie Hitze nicht vertragen.“
„Van Bansemann und Polisch?“ fragte Conrad freundlich.
„Daß du das behalten hast!“
„Natürlich ... wie geht es ihnen denn?“
„Danke. Ich kriege sie wieder auf die Strümpfe.“
„Du verstehst deinen Kram“, sagte Conrad anerkennend.
„Und du? Ich finde, du siehst besser aus. Auch ohne meine Hilfe. Du ißt doch vernünftig? Nicht zu viel, nicht zu wenig? Butter ... Sahne.“
„Ja, danke“, sagte Conrad und steckte sich ein ganzes Sahneröllchen in den Mund, „ich komme auch wieder auf die Strümpfe.“
Unwillkürlich blickte Ilse auf Conrads Strümpfe. Sie waren an beiden Hacken kaputt. Die Löcher schauten über die Schuhränder. „Bring mir doch deine Strümpfe“, sagte sie, „ich stopfe sie gerne. Weißt ja, Handarbeiten ist meine Leidenschaft.“
Conrad lachte: „Man soll die Leidenschaften der Menschen nicht schüren. Außerdem, mit kaputten Landserstrümpfen versteht nur ein Mann umzugehen. Du würdest das viel zu sorgfältig machen. Brille auf — und Faden neben Faden gezogen. Nee, lohnt nicht.“
„Du stopfst sie doch aber nicht?“
„Nee ... zu faul. Lohnt nicht. Da ...“, er warf ihr den zerlesenen Brief von der Ärztekammer zu. Ilse las ihn mit wichtig gekrauster Stirn. „Das ist ja entsetzlich.“
„Sie haben mir gesagt, wenn einer der beiden Ehepartner verdient, müsse der andere aus sozialen Gründen zurückstehen. Hunderte warteten auf die Zulassung. Mit überflüssigen Ärzten könne man die Elbchaussee von Altona bis Blankenese pflastern. Gäbe endlich mal ein solides Kopfsteinpflaster.“
Ilse hatte nicht zugehört. „Aber dann stehe ich dir ja im Wege“, sagte sie bedrückt, „daran habe ich gar nicht gedacht. Was machen wir da?“
„Ja ... was machen wir da?“ wiederholte Conrad und sah sie gespannt an. Der Vorsitzende hatte gemeint, daß es unter den gegebenen Umständen wohl das Beste sei, wenn Conrad in der Praxis Ilses mitarbeite. Gewissermaßen schwarz, als Assistent. Ilses Praxis gehe ja beneidenswert gut. Besser als die mancher männlicher Kollegen. Und die Ärztekammer werde großzügig sein und es nicht zur Kenntnis nehmen, wenn Conrad bei Ilse mitarbeite. „Das wäre doch ein Weg, Herr Kollege“, hatte der Vorsitzende wohlwollend und munter gesagt.
„Sicherlich — das wäre ein Weg, Herr Kollege“, hatte Conrad geantwortet und war gegangen. Er hatte keine Lust, dem Herrn Vorsitzenden seine Familienverhältnisse auseinanderzublättern. Ilse wußte natürlich auch, was „das Vernünftigste“ war. Oder wenigstens das Natürlichste. Sie hatte es mit Gerda schon durchgesprochen. Aber Gerda war nicht einverstanden. Hatte etwa Conrad Ilse beim Aufbau der Praxis geholfen? Den hatte sie allein machen müssen und sehr mühsam sogar. Sie hatten bis vor kurzem genügend Sorgen gehabt und genug gehungert. Beinahe wie die in Rußland. Und nun sollte Conrad sich einfach ins gemachte Bett legen? „Vom Bett ist nicht die Rede“, hatte Ilse böse gesagt. Und Gerda: „Na ... na ... das weiß man nie. Außerdem: Du kennst ja meine Meinung. Laßt euch scheiden, dann kannst du ihm helfen, soviel du willst.“
Diese Unterredung war der Grund, weshalb Ilse nicht den Vorschlag machte, mit Conrad zusammenzuarbeiten. „Erst mal mußt du gesund werden“, sagte sie, „ich würde gerne deine Behandlung übernehmen. Du hättest überhaupt längst kommen sollen. Von Dystrophie verstehe ich eine ganze Menge.“
„Sicher“, sagte Conrad, „sobald ich mich aufraffen kann, komme ich mal vorbei, und du untersuchst mich gründlich. Im ganzen ist das Rezept sehr einfach. Man nehme: Geduld, bißchen Butter, bißchen Langeweile, viel Sahne, bißchen Lebensfreude, so man hat.“ Er saß vornübergebeugt, blaß, Schweißperlen auf der Stirn, und starrte den Fußboden an. Ilse sah den schönen, wohlgeformten Schädel. Die hübschen, gut gewellten, schlecht geschnittenen Haare, die etwas zu starke, aber wohlgegliederte Stirn. Eine Welle von Liebe, von Mitleid, von fraulicher Zuneigung durchflutete ihr Herz. Jetzt hinübergehen und über den schönen Schädel streichen, ja — war denn das nicht das „Vernünftigste“? Oder war es das Unvernünftigste? Einerlei. Es war in diesem Augenblick ihr brennender Wunsch. Sich aussöhnen. Das Vergangene vergessen und noch einmal versuchen, diese Ehe, die doch so schön begonnen hatte, zusammenzuleimen. Verdammt! Das war wieder ein Ausdruck von Gerda. Zusammenleimen. Sie haßte zersprungenes Geschirr. Aus diesem Stadium des Lebens war man endlich entkommen. Man konnte wieder ganzes Geschirr kaufen. In jedem Laden. Es gab genug Männer, auf die Verlaß war. Und auf Conrad war kein Verlaß. Nein, nein, wenn man einen Sprung geleimt hatte, gleich daneben war ein anderer Sprung. Weg damit.
Und aus diesem Gedanken heraus sagte sie: „Weswegen ich eigentlich gekommen bin ... wir müssen doch endlich mal wegen unserer Scheidung sprechen.“ Conrad sah überrascht auf: „Nanu — hast du es so eilig?“
„Eilig?“ echote Ilse verwirrt, „nein, eilig ist es gerade nicht. Aber du weißt ja: halbe Sachen mag ich nicht.“
„Ich weiß“, sagte Conrad, und er wollte noch allerlei Bitteres hinzufügen, daß nämlich Ilse schon viel Ganzes kaputt gemacht hatte, aus lauter Angst vor dem Halben. Aber er kam nicht dazu. Denn Hilla Hohmann trat ein. Sie wollte Conrad zu einer Tasse Tee holen. Die beiden Frauen hatten erst mal was gegeneinander. Das konnten sie nur schwer verbergen. ‚So sieht also eine vollkommene Frau aus‘, dachte Ilse, ‚merkwürdig, sonst hat doch Conrad nur Frauen mit äußerlichem Charme gemocht. Diese mäßig gekleidete Frau mit dem breiten Gesicht sollte die „vollkommene“ Frau sein?‘ Und Hilla dachte: ‚Sie ist eine hübsche und ordentliche Frau. Aber daß sie erst heute zu Conrad kommt, ist eine Schweinerei. Na ja ... dieser harte, rechthaberische Mund in dem weichen Gesicht. Schade. Sie könnte nett sein, wenn man sie noch einmal umkrempelte.‘ Sie begrüßten sich dabei herzlich und überschütteten einander mit Lobsprüchen. Ilse bedankte sich für die Fürsorge. Hilla, harmlos lächelnd, dafür, daß Ilse ihr „den reizenden Conrad so lange überließ“. Conrad amüsierte sich. Die sanfte Hilla hatte recht tückische Anlagen. Herrlich.
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