1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Doch! Jetzt war er vernünftig. Weil er krank war, apathisch, abgestorben. Höchst geeignet also für eine Ehe mit Ilse.
Nebenan machte Hannes ein paar großartige Witze. Die „Sklaven“ wieherten. Conrad sprang aus dem Bett, warf die zu große Pyjamajacke ab. Er wusch und rasierte sich gedankenlos. Heraus aus dem Gefängnis! Nur nicht mehr stumpfsinnig daliegen, Zigaretten rauchen und ab und zu den einzigen Brief lesen, den er bisher bekommen hatte. „... bedauern unter diesen Umständen, Ihrer Zulassung nicht nähertreten zu können, und stellen Ihnen anheim, Ihr Gesuch in ein bis zwei Jahren zu wiederholen. Die Ärztekammer, gez. Unleserlich.“ In ein bis zwei Jahren. Vielen Dank! Aber was sollte er sonst tun? „Umschulung zum Maurer“ hatte das Arbeitsamt geraten. Eine prachtvolle Idee. Wenn er zwei Ziegelsteine aufhob, wenn er drei Spatenstiche im Garten machte, dann ließ der Schweiß den Rücken herunter. Russisches Wasser. Ein hübsches kleines Andenken an eine große Zeit. Er zog das Prachthemd an. Müßte auch mal gewaschen werden. Na, abends konnte er es ja tun. Und dann mit nacktem Oberkörper im Atelier herumstaksen vor den mißbilligenden Blicken von Christina Keller? Quatsch. Einen Abend lang konnten die schweigsamen Ateliergänge auch mal ausfallen.
Er setzte sich die Baskenmütze auf und musterte sich im Spiegel. Es war ein etwas grünglasiges Spiegelchen in Biedermeierrahmen. So elend, wie er in diesem Glas aussah, fühlte er sich nicht. Das Gesicht wurde schon ein wenig menschlicher. Die Backen waren nicht mehr ganz so teigig. Die Augen bekamen etwas Glanz. Es waren mal sehr schöne, blaue Augen gewesen, lapislazulifarben mit winzigen braunen Pünktchen drin. Leuchtfeuer hatte sie eine verliebte Patientin genannt. Leuchtfeuer? Wer war das ... die Dame mit dem Leuchtfeuer? Conrad mußte laut lachen. Emmy ... tatsächlich Emmy, die seine Ehe mit Ilse torpediert hatte, Emmy war die Dame mit dem Leuchtfeuer. Sie hatte nun mal poetische Anlagen und konnte ihre Gefühle in lyrischen Bildern ausdrücken. Schade, daß er keine Ahnung hatte, wie sie aussah. War es die Dame mit dem weißen Tüllkleid und dem schief aufgesetzten cremefarbenen Spitzenhut gewesen oder jene Schwarzhaarige, immer in Samt Gekleidete, die ein bißchen schielte, wenn sie verliebt war, oder die kindische mit den Wollschaflocken, die Nüsternblähen als einen Ausdruck von Sinnlichkeit ansah und diese mühsam fabrizierte Sinnlichkeit durch ein knopflochgroßes Schmollmündchen wieder auslöschte? Oder war es ... Conrad machte eine ärgerliche Fratze in den Spiegel und marschierte endlich durchs Atelier. Er grüßte freundlich nach allen Seiten. Christinas Platz war leer. Sie war auf der Kunstakademie. Sie würde also am Abend ihre Arbeit nacharbeiten müssen. Schön? Ja — ganz schön.
Aber eigentlich war es auch gleichgültig.
Es regnete heftig. Er schlug den Kragen seines Jacketts hoch und lief durch den Garten, als ob ihn draußen ein schützendes Auto erwartete. Er stand auf der Straße. Wohin sollte er gehen? Er entschloß sich für rechts. Da ging’s zum Bahnhof. Er konnte sich wenigstens eine Zeitung kaufen. Dann hatte der Marsch einen Sinn. Er ging, den Kopf eingezogen, die Hände in den Taschen. Nach zwanzig Schritten stieß er an einen Regenschirm. Er entschuldigte sich. Der Regenschirm hob sich. Ilse und Conrad waren auf der Straße zusammengestoßen. „Ich wollte dich endlich besuchen“, lachte Ilse, „... schade — du bist nicht zu Hause.“
„Ja, schade“, sagte Conrad, „und wie vornehm du bist, hast schon wieder einen Regenschirm! Komm.“
„Du wolltest doch weggehen?“ fragte Ilse schüchtern.
„Ich wollte nur für dich Kuchen kaufen. Schillerlocken. Nicht wahr? Hattest du doch gern?“
„Aber wußtest du denn ...“, sagte Ilse, die bei Witzen anderer immer etwas langsam leitete.
„Natürlich“, sagte Conrad (und es war schade, daß er das sagte), „ich wußte doch, daß du dich um mich kümmern müßtest.“
Und um keine Mißstimmung aufkommen zu lassen: „Also, dann geht’s auch ohne Schillerlocken.“
„Ich habe sie doch mitgebracht. Selbstverständlich“, sagte Ilse und hob vergnügt ein angeregnetes Päckchen hoch.
„Egoist“, tadelte Conrad. Beide lachten.
Hannes war Gott sei Dank schon fort, als sie das Atelier unter den neugierigen Blicken der „Sklaven“ durchquerten. Seine lärmenden Witze wären nicht am Platze gewesen. Sie waren beide ängstlich und schüchtern. Ilse kochte mit hausfraulichem Eifer den Tee. Sie war darin keine Meisterin. Sie vergaß, die Kanne anzuwärmen. Sie schüttete achtlos eine Faust voll Tee hinein. Es wurde ein Absud, tintenschwarz und gallenbitter. Christina konnte das besser. „Immerhin ... zwei Tassen hast du schon“, sagte Ilse betulich, „du kannst also Gäste empfangen.“
Conrad sagte mürrisch: „Ich habe keine Gäste ... hier in dieser Bruchbude geht das nicht.“ Er sprach die reine Wahrheit. Warum war er etwas verlegen über diese Wahrheit? Sollte er etwa Ilse von seinen abendlichen Teemärschen erzählen, von den hundert und zweihundert gleichgültigen Worten, die er mit Christina gewechselt hatte? Ja — wenn er mit Ilse wieder in Ordnung kommen wollte, mußte er das erzählen. Das gehörte zum Kapitel der Ilseschen Aufrichtigkeit. Aber als erstes paßte ein solcher Bericht schlecht. Jeden zweiten Abend sitzt da drin eine junge Dame und kocht mir einen Tee. Das würde Ilse in die falsche Kehle bekommen, und er müßte eine lange Erklärung hinzufügen über das merkwürdig abwesende Gehabe Christinas, über ihre Verbindungslosigkeit zur Welt oder vielleicht gar über die Trillerpfeife, die schon zweimal nach Christina gepfiffen hatte. „Woran denkst du?“ fragte Ilse und schenkte den Teeabsud ein. „Zwei Stück Zucker, wie immer?“
„Nein drei, wenn er so stark ist“, sagte Conrad.
„Richtig ... du trinkst ihn ja goldbraun. Bei uns kocht Gerda den Tee, und sie liebt ihn englisch.“
„Englisch — eine merkwürdige Vorliebe“, sagte Conrad harmlos. Ilses Gesicht verschattete sich etwas. Conrad hatte da an eine Wunde gerührt. Es war eine nie ausgesprochene Geschichte zwischen Gerda und einem englischen Offizier gewesen. Es gab überhaupt manchmal Männergeschichten, die Ilse nicht begriff und über die Gerda nicht sprach oder doch nur ganz nebenbei, nachher, wenn sie sie mit einer harten, herrischen Bemerkung abtat und beerdigte. „Ihr lebt aber gut zusammen?“ fragte Conrad uninteressiert. Ilse nickte. „Ein scheußliches Zimmer“, sagte sie bedrückt, „ich dachte, Hannes Hohmann sei reich und du lebtest in einer hübschen hellen Wohnung.“
Ich bin ja schließlich mit Hannes nicht verheiratet, dachte Conrad bitter. Aber er sagte nichts.
„Ruhe hast du ja wenigstens hier“, stellte Ilse versöhnlich fest und legte ein Sahneröllchen auf Conrads Untertasse.
„O doch“, sagte Conrad, „Ruhe, Wärme, bißchen wenig Sonne und eine gute Verpflegung. Hilla sorgt rührend für mich.“ Und da Ilse ihn fragend ansah: „Hilla ist die Frau von Hannes. Die würde dir gefallen, ein wirklich vollkommener Mensch.“
„Gibt es vollkommene Menschen?“ fragte Ilse. „Früher sagtest du doch immer: Vollkommene Menschen ... dazu hat der Verstand der Schöpfung nicht gereicht.“
„Hilla ist die einzige Ausnahme“, sagte Conrad vergnügt, „vor Ausnahmen muß man sich beugen.“
„Du hast auf alles eine Antwort“, sagte Ilse ohne Spott, „schreibst du manchmal? Das wäre doch schön.“
Conrad zuckte die Achseln: „Ich versuche es.“ Er wies auf das Birkentischchen, auf dem ein paar lose Blätter lagen.
„Magst du mir nachher ein bißchen vorlesen?“
„Nein“, sagte Conrad bestimmt, „was ich geschrieben habe, ist ungerecht und bitter. Nichts für dich. Du haßt doch die Abgründe und die Dunkelheit, nicht wahr? Sie sind eher lächerlich als gefährlich. Sagtest du nicht so?“
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