„Vielen Dank“, sagte sie, „ich pfeife nicht.“
„Dann ist ja alles in bester Ordnung“, schloß Conrad, betrat sein Zimmer und machte die Tür mit einem ärgerlichen Ruck hinter sich zu. Ja — er war ärgerlich. Was sollte dieses indiskrete Geschwätz? Nur weil er ihr Schicksal kannte, nur weil sie ihm leid tat, hatte er ihr die Dahlie geschenkt. „Man muß nett mit ihr sein“, hatte Hannes großmütig gesagt. Gut! Gut! Aber mußte er nett sein? Sie hatte schlimm bezahlen müssen. Er auch. Jeder mit dem, was er hat, dachte er zynisch. Ich mit meiner Gesundheit und wahrscheinlich mit meiner Existenz und sie ... na ja. Kein Grund, miteinander zu schwätzen oder Blumen zu verschenken. Außerdem war es lästig, daß sie im Atelier saß. Nun war er in seiner engen Kammer eingesperrt.
Es war die frühere Gerätekammer des Bildhauerateliers. Drei Schritt breit und vier Schritt lang, eine Art Gefängniszelle. Sogar ein rostiges Gitter gab es vor dem Fenster, das auf den Obstgarten hinausging. Ein Feldbett stand drin, ein halbverrosteter Waschständer mit einer Blechwaschschüssel und einer tulpengeschmückten Porzellanwasserkanne, ein dreibeiniger Plüschsessel, den man nicht verrücken durfte, weil das vierte Bein durch Ziegelsteine ersetzt war. Und als Prachtstück ein winziges birkenes Biedermeiertischchen mit zersprungenem Furnier und mit einem Klaviersessel davor, aus dessen lederner Sitzfläche die graue Wattepolsterung hervorquoll. Ein Flickenteppich lag auf dem Boden, und auf dem Holzstuhl neben dem Bett stand eine flache türkische Lampe aus Messing mit einem goldenen Halbmond als Spitze und mit roten Troddelfransen als Schmuck. Ein lumpiges Zimmer. Aber trotzdem gemütlich. „Mehr braucht der Mensch nicht“, hatte Conrad schon ein paarmal zu Hannes gesagt. „Alles andere haben ihm so Architekten wie du eingeredet, damit sie ein Luxusleben führen können, überflüssigerweise in Bars rumsitzen, unnütze Autos fahren und nichtsnutzige Weiber mit Schmuck und Pelzen behängen.“ Und Hannes hatte erwidert: „Untersteh dich und preise die Selbstbescheidung. Ich brauche Menschen, die sinnlose Wünsche haben und sinnlosen Luxus konsumieren. Davon lebe ich, und zwar gut, wie sich das gehört.“ Und Conrad: „Ich jedenfalls brauch’ nicht mehr, und mich kriegst du hier nicht wieder raus.“
So, und nun saß er hier, besah seine zwölf Quadratschritte und fühlte sich zum ersten Male, seit er zurück war, wieder gefangen. Drei Schritt breit und vier Schritt lang, und da draußen saß dieses Frauenzimmer und hinderte ihn, in dem Atelier auf und ab zu rennen. Das hatte ihm doch Hilla geraten. Worüber sollte er nachdenken? Über den Vollkommenheitswahn. Na ... den hatte er nicht. Den hatte ... Ilse. Und zwar kräftig. Leider nur nicht auf sich selbst gerichtet, sondern auf ein sehr ungeeignetes Objekt. Auf ihn, Conrad, einen Psychologen und Psychiater von Rang, der sich täglich mit dunklen Untergründen, mit den unbeherrschbaren Tiefen der menschlichen Seele zu befassen hatte, vor dem sich die Leidenden, die Patienten, täglich und schamlos bis in ihre schmutzigen Tiefen entblößten. Was für eine anständige Sache war dagegen noch die kläglichste körperliche Nacktheit, vor der sich die robustere Ilse oft genug entsetzte. Der Vollkommenheitswahn — der wurde einem schon ausgetrieben, vor allem in dem dunklen Grenzgebiet der Verfallenheiten, der Schwächen, der Süchte, in dem klüftereichen Felsgewirr der Hysterien, in dem Irrgarten der Schizophrenie, wo die Vernunft dicht neben dem Wahnsinn lagerte. Und wenn man aus diesen Dunkelheiten ans Licht stieg, dann war es nicht möglich, die Infektionen mit etwas Seife und einer harten Wurzelbürste abzuwaschen, so wie Ilse, die immer saubere, das konnte. Die Seele läßt sich nicht so leicht desinfizieren, und das Gehirn, das immer grübelnde, läßt sich nicht chemisch reinigen. Das braucht schon ein bißchen mehr, eine Abwechslung, eine Aufheiterung, ja manchmal einen Rausch, einen Lärm, einen Rummelplatz mit kreischenden Menschen, mit brüllenden Melodien, mit rasenden Berg-und-Tal-Bahnen, mit Lichtern, die sich an Karussells drehen und an blödsinnigen Buden leuchten.
Nanu, woher kam denn plötzlich dieser Rummelplatz? Ilse liebte doch keine Rummelplätze. Sie fand es sinnlos, nach Tonpfeifen und ausgeblasenen Eiern zu schießen, sich Luftballons in das Knopfloch zu stecken (die Dahlie vorhin — ja .. sie sah aus wie ein Luftballon, daher wohl die Erinnerung). Schön sinnlos war es, Schmalzkuchen zu essen, obwohl man satt war, bärtige Frauen zu bestaunen oder auf lahmen Pferden im Hippodrom zu reiten. Nein ... das konnte man alles mit Ilse nicht. Also, was sollte der Rummelplatz jetzt? Er lächelte. Er war drei-, vier-, fünfmal hintereinander auf dem Rummel gewesen. Wie hieß sie? Herta. Wie sah sie aus? Keine Ahnung. Doch. Sie hatte eine lustige Stupsnase. Sie hatte ein hübsches Zimmer mitten in der Stadt. Die Tür lag gleich gegenüber der Eingangstür. Man brauchte die Schuhe nicht auszuziehen. Man kam, den Ballon im Knopfloch, das erschossene Lebkuchenherz am Hals. Man lachte viel. Aber man mußte leise lachen. Kichern. Es war sehr albern. Und Ilse hatte nichts gemerkt. Gut so. Alles, was man vergißt, hatte keinen Sinn. Aber manchmal braucht der Mensch das Sinnlose, wenn er verarbeitet und vergrübelt ist, wenn er nicht mehr weiterkommt mit den Problemen seiner Kunst, seines Berufes, seines Lebens. Er stand auf, er gähnte. Er reckte sich. Er ging: vier Schritt lang, drei Schritt breit.
Es klopfte. Vor der Tür stand Christina Keller, mit einer Teetasse in der Hand. Sie hatte — jetzt erkannte er es — eine weiße Flauschjacke an, sehr geschickt aus einer alten Decke geschneidert, ein knallrotes Halstuch, hübsch geknüpft. Dazu trug sie flaschengrüne Manchesterhosen. Christina sagte schüchtern: „Ich habe mir einen Tee gekocht. Ich dachte, vielleicht frieren Sie auch.“
„Nein“, sagte Conrad, „mir ist eigentlich immer zu heiß.“
Christina wandte sich zum Gehen: „Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht stören.“
„Bei mir gibt’s nichts zu stören“, lachte Conrad, „ich habe nicht das geringste zu tun.“
Christina stellte die Tasse auf das birkene Tischchen. „Dann ist es ja gut“, seufzte sie erleichtert, „Sie können den Tee schon trinken. Teekochen ist das einzige, was ich meisterhaft beherrsche.“ Und schon im Abgehen setzte sie hinzu: „Verdammt eng haben Sie es hier. Im Anfang habe ich nämlich auch hier gewohnt. Man kriegt manchmal Erstickungsanfälle.“
„Abends marschiere ich meist da draußen auf und ab“, sagte Conrad, „aber nun ...“
„Wenn Sie herummarschieren wollen, bitte. Ich schau’ nicht hin, und schwätzen brauchen Sie auch nicht. Ich habe zu tun.“
Sie ging hinaus. Die Tür ließ sie offen. Conrad probierte den Tee. Er war goldbraun, nicht zu stark, nicht zu schwach. In der Tat vorzüglich. Er starrte durch die Tür in das leere, dämmerige Atelier. War das Ganze eine einladende Anknüpfung, ein koketter Annäherungsversuch? Kaum. Sie hatte kein bißchen kokettiert. Sie hatte ihn auf eine merkwürdig gerade, eigentlich unweibliche Art angeschaut. Sie wollte sicherlich nichts von ihm. Und er? Nun — er wollte wahrhaftig nichts von ihr — oder doch? Ihr Schicksal interessierte ihn. Wie überwindet eine hübsche, junge Frau derlei Erlebnisse?
Er nahm die leere Teetasse und ging hinein. „Wenn Sie mir noch eine Tasse Tee schenken würden“, sagte Conrad ein bißchen verlegen. Sie goß ihm ein, ohne ihn anzusehen. Dabei sagte sie: „Es wäre mir wirklich angenehm, Sie liefen hier auf und ab, wie Sie es gewohnt sind. Sonst trau’ ich mich nie mehr abends hierher.“
Conrad schob ihr eine Zigarette zu. Sie dankte und hielt ihm ihr Feuerzeug hin. Dann vertiefte sie sich in ihre Zeichnung, und Conrad begann seinen Marsch durchs Atelier. Er hatte die etwas zu weiten Filzbabuschen an, die ihm Hannes geschenkt hatte. Deshalb ging er lautlos. Aber elegant sah er wahrhaftig nicht aus mit seiner aufgekrempelten Hose und dem Herzstückchen-Jakett. Schweigend marschierte er fünf Minuten hin und her. Er kam sich albern vor. Ein Demonstrationsmarsch, dachte er. Nur, um zu beweisen, daß wir einander nicht stören. Aber sie stört mich. Ich kann nicht nachdenken. Oder ist es gut, daß ich nicht nachdenken kann? Doch: es ist sehr gut. Hillas Preisaufgabe über den Vollkommenheitswahn habe ich gelöst. Ilse hält sich für vollkommen, — ich weiß, daß ich nicht vollkommen bin. Ich könnte deshalb verzeihen. Ilse kann es nicht. Punkt. Erledigt. Moment noch: ich habe Ilse ja nichts zu verzeihen. Oder doch? Jemandem seinen Charakter verzeihen? Quatsch. Jeder ist, wie er ist.
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