„Ilse hatte mir eben die Scheidung angetragen“, sagte er bieder und scheinheilig. „So?“ sagte Hilla überrascht und sah zwischen der erröteten Ilse und dem undurchdringlichen Conrad hin und her, „das ist so ’ne Idee, die jetzt viele haben.“
„Wir hatten es schon vor Jahren beschlossen“, sagte Ilse bockig. Sie konnte es nicht leiden, mit dem Durchschnitt in einen Topf geworfen zu werden. Im Gegenteil: je weniger der Durchschnitt von der Ehe hielt, je leichter die durchschnittlichen Menschen auseinanderliefen, um so heftiger hatte sie die Heiligkeit und Unverletzbarkeit der Ehe verkündet, und an ihr lag es doch wahrhaftig nicht, wenn nun auch ihre Ehe auseinandergehen mußte. „Wir haben zu verschiedene Auffassungen von der Ehe“, sagte Ilse verbissen, „und ich will Conrad meine Auffassung nicht aufzwingen!“ „Er hat nämlich einen Begriff von der Unabhängigkeit des Menschen, der mit dem Wesen der Ehe nicht zu vereinbaren ist“, erläuterte Conrad spöttisch. Hilla sagte unschuldig: „Ihr seid also noch im theoterischen Teil der Ehe. Das ist natürlich ein Malheur. Praktisch seid ihr ja seit sieben Jahren nicht mehr verheiratet.“ „Wir könnten uns noch mal verloben“, schlug Conrad grinsend vor, „die Verlobung haben wir seinerzeit überschlagen. Sie waren doch verlobt, Hilla?“
„Natürlich waren wir verlobt. Hannes hat mit Rosenstrauß und Cutaway bei meinem Vater um meine Hand angehalten. Portwein gab’s aus einer Karaffe und Butterkeks aus unserer blauen Glasbüchse. Hannes hat die ganze Büchse leer gefuttert.“
Endlich lachte Ilse. Sie kannte diese wohlanständige Familienatmosphäre aus einer kleinen schleswig-holsteinischen Stadt. „Mein Vater war nämlich Oberstleutnant und sehr adelsstolz“, erläuterte Hilla.
„Mein Vater war Pastor“, erzählte Ilse. Sie sahen sich freundlicher an. Sie fanden einander überraschend nett.
Draußen im Atelier beendeten die „Sklaven“ lärmend ihre Arbeit. Ilse sah auf ihre Uhr und erschrak. „Himmel, meine Patienten warten schon eine Viertelstunde.“ Sie verabschiedete sich eilig und aufgeregt. „Also, du kommst mal zur Behandlung“, sagte sie zu Conrad, und sie versprach Hilla, gelegentlich mal „gemütlicher“ vorbeizukommen. Sie verbat sich Conrads Begleitung. Der Regen sei nichts für ihn. Sie lief, den Regenschirm schwingend, hinaus. Hilla setzte sich auf den freigewordenen Sessel. „Die ganze Zeit bin ich schon gierig auf ein Sahneröllchen“, sagte sie, „bieten Sie mir sofort eins an.“
Sie biß genüßlich hinein.
„Herrlich! Mein Lieblingskuchen! Und ich habe seit Jahren keinen gegessen.“
„Warum kaufen Sie sich nicht einfach mal einen ganzen Berg?“ fragte Conrad.
„Ich vergesse es immer“, antwortete sie kauend und griff nach dem letzten Stück.
„Aber wenn Hannes gerne Schillerlocken äße“, stellte Conrad mißbilligend fest, „dann gäbe es jeden Tag zwei Dutzend.“
„Drei Dutzend“, nickte Hilla, „er hat immer so stürmische Wünsche. Und sehen Sie, Conni — das ist es: stürmische Wünsche muß man haben. Dann kriegt man auch alles, was man haben will. Aber wenn man zur Not auch ohne Schillerlocken leben kann, wenn man nicht denkt, die Welt würde auseinanderbersten, in der nächsten Sekunde schon, falls nicht dies dämliche Sahnegebäck anrollt ... ja, Conradin, wenn man weiß, das Leben geht auch weiter, ohne diese Küchelchen ... dann fühlt sich der liebe Gott nicht verpflichtet, einem so einen Pappteller zu präsentieren.“
„Und was sagen Sie zu Ilse?“
Hilla nahm den Pappteller, kniffte ihn zusammen und steckte ihn in den Ofen: „Ich habe Ihnen schon alles gesagt.“ Sie begann die Tassen ineinanderzustellen und wandte sich der Tür zu. „Bis jetzt haben Sie nur über Hannes gesprochen und über seine stürmischen Wünsche, die er alle erfüllt bekommt. Und Ilse hat sich immer stürmisch einen treuen Ehemann gewünscht. Aber gekriegt hat sie ihn nicht.“ Hilla setzte sich: „Sie sind ziemlich dumm, Conni. Einen treuen Ehemann. Was heißt denn das? Das ist doch ein ziemlich abstraktes Gebilde.“
„Das erzählen Sie mal den eifersüchtigen Ehedamen, die finden Treue was sehr Wirkliches.“
Hilla nickte versonnen: „Davon kommen ziemlich viele Irrtümer, Conni. Aber das läßt sich schwer auseinanderpulen.“
„Mögen Sie es nicht versuchen?“
Hilla sah ihn nachdenklich an: „Das ist alles so subjektiv. Ich meine nämlich, stürmische Wünsche aufs Negative gerichtet: daß jemand etwas nicht sein oder nicht tun soll ... das sind gar keine Wünsche.“
„Sondern?“
„Wie soll man das ausdrücken? Das sind Überzeugungen. Und Sie wissen ja, von Überzeugungen halte ich nichts. Damit hat mein braver und ordentlicher Vater meine Mutter in die Melancholie, in die Schwindsucht, in den Tod gejagt. Ist übrigens ziemlich dasselbe, Melancholie und Schwindsucht, glaube ich.“
Conrad verstand sie nicht recht. Er lauschte in den Regen hinaus. Er wußte, man mußte Hilla Zeit lassen. Sie sagte immer nur den zehnten oder den dreißigsten Satz. Die Zwischengedanken ließ sie aus. Es war schon fast dunkel im Zimmer. Hilla begann wieder bedächtig: „Was Überzeugungen anrichten können, das habe ich schon als Kind lernen müssen. ‚Sieh dir an, was ist, und begnüge dich damit‘, sagte mein alter Lehrer, Professor Schulte, immer, wenn ich allzu wilde Blumenstilleben malte.“
„Sie haben gemalt?“ fragte Conrad erstaunt.
„Ja ... sogar sehr gut.“
„Und warum malen Sie nicht mehr?“
„Matthäus 6, Vers 24: Niemand kann zwei Herren dienen. Und Hannes ist ein Herr.“
„Sie müssen mir mal Ihre Bilder zeigen.“
„Die meisten habe ich verbrannt, und die paar, die Hannes gerettet hat, hängen oben im Wohnzimmer.“
„Unsinn. Da hängen nur drei alte Meister des 17. Jahrhunderts“, sagte Conrad.
Hilla seufzte wie eine Angeklagte vor dem Geständnis: „Die drei alten Meister bin ich. Hannes mag es nicht, daß man von meiner Malerei spricht.“ Und plötzlich ziemlich scharf: „Sie werden auch nichts darüber sagen. Das geht nur Hannes und mich an. Verstanden?“ „Natürlich“, sagte Conrad, „aber ich darf Sie noch mehr lieben und bewundern, Hilla.“
„Ja, das sollen Sie. Das tut mir gut. Schöne Bilder, nicht wahr?“ — „Wunderschön. Aber Sie wollten noch etwas über die Überzeugung sagen.“
„Es ist genug geschwätzt. Sieh dir an, was ist, und begnüge dich damit. Überzeugungen? Die ganze Welt schwelt noch von den Bränden, die die Überzeugungen angesteckt haben. ‚Sieh dir an, was ist, sag ja oder sag nein. Wenn du eine Farbe nicht vertragen kannst, versuche nicht, sie zu malen. Wenn du einen Menschen nicht magst, meide ihn.‘ Alles Professor Schulte. Keine Weisheit, auf meinem Mist gewachsen.“
„Aber es gibt doch Menschen, die man größtenteils mag und kleinerenteils nicht“, protestierte Conrad, „das ist sogar meist so.“ „So? Ja, vielleicht“, sagte Hilla wenig überzeugt, „ich weiß das nicht. Ich mag Menschen ganz oder gar nicht. Und wenn ich sie mag, mag ich ihre Fehler mit, ihre Eigenheiten, ja und auch ihre Wünsche. Klare, gerade Wünsche. Brennende Wünsche. Weiß schon: da können Sie drin verbrennen und zugrunde gehen. Dann kann man Angst haben um sie. Aber man darf es ihnen nicht sagen. Denn sie können sich auch reinigen in ihren erfüllten Wünschen, ja selbst durch ihre Laster. Ach, Conni, wie soll ich Ihnen das erklären?“ Sie stand auf. Sie steckte die scheußliche türkische Lampe an. Sie blickte geblendet in das Licht. Conrad sagte erregt: „Aber das ist es doch, was Ilse immer sagt. Ganz oder gar nicht.“
Hilla legte ihm die Hand auf die Schulter. „Müssen wir wirklich darüber diskutieren? Ganz oder gar nicht. Meint Ilse etwa Sie, so wie Sie sind, oder meint sie ihre Überzeugung, ihre Ansicht, ihre völlig gleichgültige Ansicht von der Welt? Wenn’s so einfach wäre, Conni. Man stellt seine Forderungen. Man präsentiert seine Rechnungen. Und wehe, wenn die Forderungen nicht hundertprozentig bezahlt werden. Das Recht ist doch auf unserer Seite. Das Gesetz steht uns doch bei. Und womöglich auch die Moral. Ja, mein Guter, was Ilse sagt ... ist völlig richtig, und ich unterschreib’ es. Ganz oder gar nicht. Aber, was sie meint ...“
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