Bruno Richard Hauptmann wurde am 28. November 1899 in Kamenz geboren, erlernte den Beruf eines Tischlers, diente im I. Weltkrieg als Soldat an der Westfront und wurde mehrmals verwundet. Zunächst fand er eine Anstellung als Fabrikarbeiter in Chemnitz, nach seiner Entlassung aber blieb er wie viele seiner Kameraden in Deutschland arbeitslos. Hauptmann wurde kleinkriminell. Raub, Einbruch und Diebstahl brachten ihm fünf Jahre Gefängnis, vier saß er ab. Als er danach erneut festgenommen wurde, floh er aus der U-Haft. »Beste Grüße an die Polizei« habe auf einem in der Zelle hinterlassenen Zettel gestanden. Dann wollte Bruno Hauptmann raus aus Deutschland. Seine Überfahrt in die Vereinigten Staaten erfolgte illegal, der dritte Versuch mit falschen Papieren gelang. Unter den Immigranten fand er Freunde mit gleichem Schicksal, unter anderem Isidor Fisch und Anna Schöffler aus Markgröningen, Württemberg. Bruno Hauptmann heiratete Anna Schöffler. Er arbeitete als Zimmermann, sie in einer Bäckerei, in der New Yorker Bronx nahmen sie Quartier. Im September 1934 wurde er verhaftet. Doch trotz der Beweise: Bruno Hauptmann leugnete und erzählte seine Version, wie er zu dem Gelde gekommen sei. Er habe für seinen Freund Isidor Fisch dieses Geld nur aufbewahrt. Aber jener Isidor Fisch hatte im Dezember 1932 eine Reise in die alte Heimat angetreten, um seine Eltern zu besuchen, und war am 29. März 1934 in Leipzig an Tuberkulose gestorben. Ihn konnte niemand mehr befragen. »Mein Gott, mein Gott, wo gibt es Gerechtigkeit in der Welt?«, klagte Hauptmann. Seine Memoiren, die er im Gefängnis verfasste, wurden zum Bestseller. Darin heißt es: Ich begegnete »Isidor Fisch zum ersten Mal in Hunters Island. Ich sah ihn mit einem anderen Mann an unserem Badeplatz. Da beide deutsch sprachen, wurden wir bald in eine Unterhaltung verwickelt, wie es auf dem Island üblich ist.« Man traf sich wieder, trank zusammen und erwies sich Gefälligkeiten. »Herr Fisch fragte mich, ob ich Interesse am Pelzhandel hätte. Ich sagte ihm, dass ich darin keine Erfahrungen besitze. Er meinte, dass er gern Effektengeschäfte machte, aber nie selbst gekauft habe. Er fragte mich, ob ich für ihn kaufen wollte. Ich sagte ›Na, na?‹, da ich den Markt nur beobachten und daraus lernen wollte, war ich nicht gewillt, die Verantwortung für die Anlage seines Geldes zu übernehmen. Aber ich sagte, wenn er für mich Pelze kaufen wollte, würde ich ihm gern später helfen. Auf diesen Plan einigten wir uns.« Auf diese Weise kam man ins Geschäft und handelte.
Mit dem Pelzhandel hatte Isidor Fisch Erfahrung. Am 26. Juli 1905 war er als Sohn eines Leipziger Pelzhändlers geboren worden. Ihr Geschäft betrieben die Fischs in der Jahnstraße (heute Industriestraße) 45. Isidors Schwester Hannah verkaufte bei Tobias Braudes Pelze auf der Katharinenstraße. Bruder Pinkus besaß ein eigenes Unternehmen der Branche, Brühl 47, II. Etage. Auch Isidor hatte den Beruf eines Kürschners erlernt. 1925 wanderte er nach Amerika aus. Tuberkulose ließ ihn in die Heimat zurückkehren. Die Hauptmanns gaben für den Freund ein Abschiedsessen. »Es war der letzte Sonnabend, ehe er nach Deutschland reiste. Herr Fisch kam gegen 9 Uhr. Da meine Frau zu der Zeit gerade im Kinderzimmer war, ging ich an die Tür, als er läutete, und ließ ihn ein. Wir gingen am Vorderzimmer vorbei, dessen Tür offen war, in die Küche. Hier gab er mir ein kleines Paket und bat mich es an einem trockenen Ort aufzubewahren. Ich fragte ihn: ›Haben Sie Papiere darin?‹ Ich glaubte, dass er einige Kleinigkeiten vergessen habe, wie Briefe und Fotografien, und dass er diese Dinge in ein kleineres Paket geschnürt habe. Ich entsinne mich nicht mehr genau, wie er sich zu meiner Vermutung äußerte. Wenn er mir gesagt hätte, dass das Paket Geld enthielte, würde ich mich anders verhalten haben. Ich hätte ihn wenigstens gefragt, woher es stamme. Da wir in der Küche waren, legte ich das Paket auf das obere Brett des Küchenschrankes. Wir benutzten dieses Brett selten, da wir dorthin Dinge stellten, die wir nicht häufig brauchten. Dennoch war das Brett ziemlich voll, sodass ich erst Platz für das Paket machen musste. Es ist deshalb leicht erklärlich, dass meine Frau es nicht bemerkte, und selbst wenn sie es gesehen hätte, würde sie nur gedacht haben, es enthielte etwas, was ich nicht mehr brauchte, aber nicht wegwerfen wollte. Die ganze Geschichte mit dem Paket war mir so unwesentlich, dass ich sie bald vergaß.« Doch dann überführt das Päckchen Bruno Hauptmann des Verbrechens des Jahrhunderts.
Die Geschwister Hannah und Pinkus Fisch werden zum Sensationsprozess geladen. Denn Pinkus hatte nach dem Tod des Bruders wegen etwaiger Außenstände bei Bruno Hauptmann angefragt. »Ich schlug drei Wege vor, den Nachlass zu ordnen. Er solle selbst herüberkommen, um alles in die Hand zu nehmen, wobei ich ihm, so gut wie es ginge, helfen würde. Falls sein Geschäft keine längere Abwesenheit von Deutschland zuließe, solle er mir alles Nötige schicken und mir notarielle Vollmacht geben. Oder er würde die ganze Angelegenheit einem Rechtsanwalt übergeben. Von letzterem Vorschlag riet ich ab, weil am Ende nicht viel übrig bleibt, wenn die Sache den Rechtsanwälten übergeben wird.« Quittungen besaß weder Pinkus Fisch in Leipzig, noch hatte Bruno Hauptmann für die Pelzgeschäfte Unterlagen.
»Und so sitze ich hier, zehn Fuß vom elektrischen Stuhl entfernt und wenn nichts getan werden kann, um mir zu helfen, wenn nichts getan werden kann, um jemanden dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen über die Art und Weise, wie die gegen mich verwendeten Beweise beschafft wurden, oder wenn nicht jemand die Wahrheit über jene sagt, die tatsächlich an diesem Verbrechen beteiligt waren und es begangen haben, werde ich mich nächsten Dienstagabend um acht Uhr als Antwort auf den Ruf meiner Wärter zum letzten Mal von meiner Pritsche erheben und werde jene letzte Meile gehen; ich werde durch die Tür gehen, die ständig vor mir war – die Tür, die diese kleine Welt, in der ich gelebt habe, in zwei Teile spaltet: den Teil, der das Leben beherbergt, und den Teil, der nur in die Ewigkeit führt. Ich vermute, es werden einige in der Kammer anwesend sein, die einen Anteil an der Vorbereitung für die Strafverfolgung in meinem Fall hatten. Ich bin fest davon überzeugt, dass ihr Leiden, ihre Qual größer sein wird als meine. Meine wird sofort vorbei sein. Ihre wird so lange andauern, wie das Leben selbst dauert.«
Viele Fragen hat der Hauptmann-Prozess nicht beantworten können. Die Witwe kämpfte bis zum Lebensende darum, die Unschuld ihres Mannes nachzuweisen. Anwälte setzen bis heute das Rehabilitationsverfahren fort. Unglücklich auch das Schicksal von Isidor Fischs Geschwistern. Nach Deutschland zurückgekehrt, fällt die Familie unter die Nürnberger Gesetze. Ihre Spuren verlieren sich in den Konzentrationslagern Bardejow und Auschwitz. Das Grab Isidor Fischs befindet sich auf dem Neuen Jüdischen Friedhof.
»Das wichtigste Rezept für den Krimi«, meinte Agatha Christie, »der Detektiv darf niemals mehr wissen als der Leser«. Hercule Poirot hat Isidor Fisch aus Leipzig nicht gekannt.
Hans Girod
Nichts für schwache Nerven
Zwei Fälle von Kannibalismus
Es ist das Jahr 1969, und es ist Herbst. Ein höchst offizielles Jubiläum kündigt sich an: Zwanzig Jahre schon hat die Arbeiter- und Bauernmacht die gesellschaftlichen Geschicke in festem Griff. Die DDR hat sich zur zweitgrößten Industriemacht innerhalb des Ostblocks gemausert und ist auf bestem Wege auch zu internationaler Anerkennung. Der Jahrestag soll würdig gefeiert werden. Auch in der sächsischen Kreisstadt Glauchau, dem traditionsreichen Industrieort der Tuchmacher und Leinenweber, laufen die Vorbereitungen. Der Kultur- und Sozialfonds in den volkseigenen Betrieben darf mit vollen Händen ausgeschöpft werden. So auch im VEB Spinnstoffwerk »Otto Buchwitz«. Eine große Kulturveranstaltung mit anschließendem Tanz bis zum Morgengrauen wird angekündigt.
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