Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert
Jan Heilmann / Matthias Klinghardt
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-7720-0063-8
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Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im März 2015 an der TU Dresden zum Thema „Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert/The New Testament and its Text in the 2 ndCentury“ stattfand; sie wurde großzügig durch die Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Die meisten Beiträge gehen auf die Vorträge zurück, die bei dieser Tagung gehalten wurden; der Beitrag von Wolfgang Grünstäudl basiert auf einem Vortrag, den er im Juni 2013 an der TU Dresden gehalten hatte.
An dem Zustandekommen dieses Bandes waren viele Menschen beteiligt, denen hier unser Dank ausgedrückt werden soll. Zunächst ist Nathanael Lüke, Fridolin Wegscheider und Johann Meyer für ihre organisatorische Begleitung der Tagung zu danken. Ein besonderer Dank gilt unserer Institutssekretärin, Eva-Maria Kaminski, die für einen reibungslosen verwaltungstechnischen Ablauf der Tagung gesorgt hat. Für die Begleitung und unermüdliche Hilfe im Redaktionsprozess danken wir Daniel Pauling, Tobias Flemming, Fridolin Wegscheider und Kevin Künzl.
Dresden, im September 2017
Jan Heilmann und Matthias Klinghardt
Das Neue Testament und sein Text im 2. Jh.
Eine Einführung
Jan Heilmann, Matthias Klinghardt
1 Die Kanonische Ausgabe und die Kanonische Redaktion
1.1 Forschungsobjekt
Der Titel dieses Bandes besitzt trotz seiner offenen Formulierung einen programmatischen Kern. Er impliziert eine Basisthese, auf die sich alle Beiträge – in Zustimmung, Weiterführung, Differenzierung und Kritik – beziehen: Das Neue Testament ist das Ergebnis einer Edition im 2. Jh. Zu Beginn sollen dieser gemeinsame Bezugspunkt der folgenden Beiträge kurz erläutert und seine inhaltlichen Implikationen skizziert werden.
1.1 Die editio princeps des Neuen Testaments
Die Ausgangsthese einer Edition des Neuen Testaments im 2. Jh. ist nicht neu. Sie geht auf David Trobisch zurück, der schon vor 20 Jahren herausgearbeitet hatte, dass die 27 Einzelschriften des NT nicht in einem längeren, anonymen Sammlungs- und Ausscheidungsprozess zu einer literarischen (und theologischen) Einheit zusammengewachsen sind.1 Diese Einheit sei vielmehr das Produkt einer einmaligen, historisch in der Mitte des 2. Jh. zu verortenden Edition. Diese Ausgabe trug bereits den Titel „Neues Testament“ (ἡ καινὴ διαθήκη) und war von vornherein als zweiter Teil einer christlichen Bibel, also mit dem Blick auf das „Alte Testament“ konzipiert. Weil diese Ausgabe des NT sich in der Folge gegenüber konkurrierenden Ausgaben durchsetzte und kanonische Geltung erlangte, wird sie als „Kanonische Ausgabe“ bezeichnet.
Trobischs These wurde von der Forschung bislang nur zurückhaltend aufgegriffen: Abgesehen von etlichen sehr allgemeinen (zustimmenden und ablehnenden) Voten und seltenen Thematisierungen von Einzelaspekten steht eine umfassende Diskussion des Konzeptes als solchem aus. Diese Zurückhaltung hat vermutlich mehrere Gründe. Man wird kaum fehlgehen in der Annahme, dass schon der methodische Ansatz auf unvertrautes Terrain führte. Denn im Unterschied zur älteren Forschung zur Entstehung des NT, die durchweg auf der sekundären Bezeugung der einzelnen Schriften durch die patristische Literatur basiert, hatte Trobisch die These einer editio princeps aus Beobachtungen an den neutestamentlichen Handschriften gewonnen. Die Einsicht, dass den Handschriften als den primären Zeugen für das NT ein größeres methodisches Gewicht vor den sekundären Testimonien der Patristik (und den tertiären Schlussfolgerungen daraus) zukommen muss, setzt sich nur langsam durch. Neben dem ungewohnten methodischen Zugang erklärt sich die Zurückhaltung wohl auch durch die gravierenden Implikationen der These: Sie erfordert eine Neuorientierung in weiten Teilen der gesamten neutestamentlichen Forschung, aber auch der Patristik. Es ist das Ziel dieses Bandes, die Diskussion dieser These zu beginnen: ihre Voraussetzungen zu überprüfen, ihre Tragfähigkeit zu evaluieren und die Reichweite ihres Erklärungswertes zu erkunden.
1.2 Die Kanonische Redaktion der Evangelien
Die entscheidende Innovation dieser These einer editio princeps liegt nicht so sehr in der Vorstellung, dass das NT schon im 2. Jh. vollständig vorlag (was ja immerhin eine Neujustierung der patristischen Belege für die Diskussion „umstrittener“ Schriften erfordert – etwa die Bestreitung der paulinischen Verfasserschaft des Hebr durch Origenes), als vielmehr in der Annahme, dass alle nt.lichen Schriften einer einheitlichen und vereinheitlichenden redaktionellen Bearbeitung durch den (oder die) Herausgeber dieser Kanonischen Ausgabe unterzogen wurden. Trobisch hatte diese integrierende Redaktion an paratextuellen Signalen festgemacht: Kodexform, Nomina Sacra und Überschriften. Aber es liegt auf der Hand, dass eine redaktionelle Bearbeitung sich nicht auf diese Elemente beschränkt haben muss.
In diesem Zusammenhang ist die Analyse des literarischen Verhältnisses zwischen dem Evangelium, das aus der für Marcion bezeugten Schriftensammlung bekannt ist, und dem kanonischen Lukasevangelium von Bedeutung.1 Obwohl diese Untersuchung von ganz anderen Beobachtungen und methodischen Voraussetzungen ausgeht, konvergiert sie mit Trobischs These der Endredaktion des NT, differenziert deren Ergebnisse und führt sie weiter. Die Analyse des Abhängigkeitsverhältnisses zeigt sehr deutlich, dass das traditionell angenommene Bearbeitungsverhältnis zwischen dem marcionitischen Evangelium und dem kanonischen Lukasevangelium umzukehren ist: Das für Marcion bezeugte Evangelium ist keine sekundäre Bearbeitung und „Verstümmelung“ des Lk, wie ihm von den altkirchlichen Häresiologen bis Harnack und darüber hinaus vorgeworfen wurde; vielmehr ist umgekehrt Lk eine redaktionelle Bearbeitung (und zwar überwiegend eine Ergänzung) eines älteren, vorkanonischen Textes. An dieser Stelle liegt die Konvergenz zu Trobischs These der Endredaktion des NT. Denn es lässt sich wahrscheinlich machen, dass die redaktionelle Hand, die das marcionitische Evangelium bearbeitet und in das kanonische Lk verwandelt hat, mit der von Trobisch angenommenen Endredaktion identisch ist oder in ihre unmittelbare Nähe gehört. Wenn diese „lukanische“ Redaktion ein Teil der Endredaktion des Neuen Testaments darstellt, dann lässt sich die Verfahrensweise dieser Endredaktion anhand der Bearbeitung des marcionitischen Evangeliums konkretisieren und differenzieren. Diese Kanonische Redaktion hat demzufolge sehr viel mehr getan, als paratextuelle Signale, Layoutentscheidungen oder die Titelgestaltung der einzelnen Schriften zu vereinheitlichen: Sie hat tief in den älteren (vorkanonischen) Textbestand eingegriffen und eigene redaktionelle Schwerpunkte gesetzt. Vor allem hat sie die vor-neutestamentliche Überlieferung der Evangelien abgeschlossen und das Vier-Evangelienbuch in die neue Ausgabe integriert.
1.3 Die Kanonische Redaktion und der Text des Neuen Testaments
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