Völlig zutreffend ist jedoch d) die von Holmes und Grünstäudl geäußerte Kritik an Trobischs Idee, dass das Neue Testament zusammen mit dem Alten Testament „publiziert“ worden sei. Die Argumentation über die festen Sammlungseinheiten und über die Reihenfolge der Einzelschriften auch innerhalb der alttestamentlichen Hss. kann m. E. nicht aufrechterhalten werden.30
Das mit der Kritik unter Punkt e) angesprochene Problem der Titel und der Platzierung der Paratexte in den neutestamentlichen Handschriften ist eigentlich zu umfangreich, um es im Rahmen eines Sammelbandes zu behandeln und bedarf m. E. im Blick auf die These von Sammlungszusammenstellungen einer eigenständigen Untersuchung. Ein Desiderat besteht zudem m. W. in der Untersuchung der handschriftlich überlieferten Titel in den Sammlungseinheiten neben den Evangelien.31 An dieser Stelle ist aber schon gegen Parkers Kritik an Trobisch und Heckel in Stellung zu bringen, dass seine Vermutung, die Überschrift in 𝕻 66sei eine spätere Hinzufügung, ebenfalls auf tönernen Füßen steht. Er entfaltet diese These nämlich nicht selbständig, sondern verweist lediglich auf Turners Standardwerk zu den griechischen Handschriften,32 der ebenfalls ohne eigene Argumentation vermutet „that the title on the first page […] seems to be a later addition.“33 Die auf der Tagung anwesenden Experten im Bereich der Paläographie und Papyrologie haben die These des sekundären Charakters der Überschrift zurückgewiesen.34 Turner selbst warnt zu Recht vor dem zu einfachen historischen Narrativ: Rollen waren in der großen Mehrzahl der Fälle mit subscriptiones ausgestattet, bei der Übertragung der Texte in Kodizes sei diese Praxis übernommen worden, die Praxis, inscriptiones in Kodizes zu verwenden sei eine späte Entwicklung.35 Selbst wenn wir zwei Beispiele mit später hinzugefügten Titeln hätten, so bliebe immer noch die Evidenz in 𝕻 75bestehen: Auf f. 44r findet sich sowohl die subscriptio ευαγγελιον κατα λουκαν als auch die insciptio ευαγγελιον κατα ιωανην. Zudem hat Gathercole zuletzt zu Recht gezeigt, dass das Problem von neutestamentlichen Paratexten gerade nicht auf die Frage nach subscriptio und inscriptio reduziert werden kann.36 Paratextuelle Informationen zum Titel können in einem Sammelkodex prinzipiell an vier Stellen vorkommen: a) am Beginn, b) am Beginn einer Kapitelliste, c) in der fortlaufenden Kopfzeile, d) am Ende.37 Diskutiert man die Edition von Sammlungen neutestamentlicher Schriften, sollte man sich darüber Gedanken machen, welche paratextuellen Formen der Titel auf die Entscheidung im Kontext der Zusammenstellung von Sammlungsersteditionen zurückgehen und inwiefern Varianten im Handschriftenbefund als Abwandlungen dieser ursprünglichen Form interpretiert werden könnten, die wiederum auf editorischen Entscheidungen anderer beruhen.
An Trobischs Schlussfolgerungen bezüglich der großen Einheitlichkeit der Titel ändert das alles nichts. So wird man S. Petersen Recht geben müssen, wenn sie gegenüber der These Hengels einer sukzessiven Entstehung der Evangelientitel betont, dass sie „eine Konsequenz aus dem Zusammentreffen verschiedener Evangelien“38 sind. Allerdings ist zu überlegen, ob nicht das Modell „Zusammentreffen in einer Sammlung“39 mehr Plausibilität besitzt als Petersens ohne weitere Begründung vorausgesetztes dynamisches Gemeindezirkulationsmodell, bei dem der Konsens über die einheitlichen Evangelientitel im diskursiven Austausch über die Texte gefallen sein soll.40 Wirft man Trobisch an anderer Stelle vor, er könne keine positiven Belege für seine These anführen, so gilt dies für die Annahme einer sukzessiven Titelentstehung oder der These einer Titelentstehung im Kontakt umso mehr. Zudem müsste Petersen konsequenterweise dann die Entstehung der Evangelientitel und die Entstehung der Titel in den Briefsammlungen unterscheiden. Hier hat das einheitliche Erklärungsmodell Trobischs, das die Titelformulierung auf eine editorische Entscheidung zurückführt, eindeutige heuristische Vorzüge. Grünstäudl weist zudem darauf hin, dass die Titel „ nur innerhalb der Teilsammlungen ‚einheitlich strukturiert sind‘“41. Dies wird von Trobisch auch nicht bestritten, der zudem die Funktion der unterschiedlichen Titelgebung im Vergleich der Teilsammlungen untereinander mit dem Redaktionskonzept insgesamt erklärt.42 Das Argument Trobischs für eine einheitliche Redaktion ist, dass die Titel in den Handschriften einheitlich überliefert sind, und nicht, dass sie über die einzelnen Teilsammlungen hinweg einheitlich gestaltet sind. Die umgekehrte Annahme, dass das NT in Form von 27 Schriften sich in einem dynamischen Sammlungs- und Ausscheidungsprozess formiert hätte, ließe aus der Sicht Trobischs eine höhere Diversität innerhalb des Handschriftenbefundes erwarten. Daher ist m. E. Grünstäudls Schlussfolgerung nicht zwingend, die Titel könnten nicht auf eine einheitliche Teilsammlungsedition im 2. Jh. zurückgehen. Für die damit verbundene zwingende Zusatzannahme, die Zählung der Briefe beruhe „auf dem Zusammentreten von zwei (bzw. im Fall der Johannesbriefe: drei) Texten“43, gilt die oben geübte Kritik an der Vereinbarkeit der Einheitlichkeit mit den Implikationen eines dynamischen Gemeindezirkulationsmodells.
Etwas stärkere argumentative Gegenkraft haben die Einwände bezüglich der Nomina Sacra. Hieraus folgt, dass erstens alle außerkanonischen Befunde in Texten und in den archäologischen Zeugnissen44 als Reaktion auf die stilbildende Innovation einer editio princeps zurückführt werden müssen, was allerdings aus chronologischer Sicht durchaus möglich ist. Z weitens ist noch einmal hervorzuheben, dass der Herausgeber in Trobischs Modell lediglich das System, nicht aber die genaue Ausgestaltung etabliert habe. Es wäre daneben aber drittens auch möglich anzunehmen, dass der Herausgeber einen bestehenden Identitätsmarker der frühen Christen aufgegriffen haben könnte. Auch dies könnte die Verbreitung und Variabilität erklären, wäre aber immer noch kein Gegenbeweis der These Trobischs. Insgesamt sollte man aber die Beweislast, die man den Nomina Sacra für den Nachweis einer editio princeps aufbürdet, nicht allzu stark strapazieren.
Die weiteren Einwände – zur Disparatheit der hss. Überlieferung (g) und zu den Abweichungen in der altlateinischen Überlieferung (h) – können hier nicht ausführlich thematisiert werden. Allerdings kann man im textkritischen Befund doch einige Muster und Regelmäßigkeiten bzw. statistische Auffälligkeiten erkennen, die ein Dynamizitätsparadigma wie das des „living texts“ in Frage stellen. Diesbezüglich sei angemerkt, dass das von M. Klinghardt angewandte Modell der Interferenz verschiedener Ausgaben („vorkanonisch“ – „kanonisch“) zur Erklärung von Varianten in der neutestamentlichen Textüberlieferung,45 das in der Theorie und auf der Basis des historischen Befundes konzeptionell noch zu verfeinern wäre, mutmaßlich weiterführende heuristische Potentiale bereithalten kann.46 Der Einbezug der altkirchlichen Übersetzungen (h) wäre sicher eine weiterführende Forschungsperspektive, die erkundet werden müsste. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Übersetzungen selbst schon eine eigene Tradition entwickelt haben könnten und im Sinne des Interferenz-Modells von „vorkanonischen“ Texten und Sammlungen beeinflusst sein könnten.47
2 Sozial- und kirchengeschichtliche Argumente
Zahlreiche weitere Argumente, die Trobischs These in der Forschung der letzten Jahre entgegengebracht worden sind, können unter der Kategorie Sozial- und Kirchengeschichte subsumiert und in fünf Hauptargumente zusammengefasst diskutiert werden:
2.1 Die Kodexform habe schon vor einer mutmaßlichen Herausgabe der editio princeps für christliche Schriften Anwendung gefunden.1
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