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Geleitwort der Herausgeber der Originalausgabe zur deutschen Ausgabe
Als viele christliche Kirchen nach 1945 erkannten, welch große Verantwortung sie über die Jahrhunderte hinweg für die Verbreitung antijüdischer Lehren trugen, aber auch, wie diese Lehren dazu halfen, die Saat des Nazi-Antisemitismus einzupflanzen, begann ein schmerzlicher Prozess der Umkehr und Korrektur. Gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs setzte im deutschsprachigen Raum eine Neubewertung des Verhältnisses zwischen Christentum und Judentum ein. Dies lässt sich z.B. erkennen an den berühmten „Zehn Thesen von Seelisberg“, die 1947 auf der ersten Internationalen Konferenz der Christen und Juden (auch „Emergency Conference on Antisemitism“) vom International Council of Christians and Jews beraten und verabschiedet wurden, aber auch an der „Entschließung zur Judenfrage“ des Katholikentages (1948) und an dem „Wort zur Judenfrage“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (1950).
Innerhalb dieses andauernden und bahnbrechenden Prozesses haben Christen erkannt, was sie den Juden, aber auch sich selbst angetan haben, indem sie nicht nur alle Juden pauschal für den Tod Jesu verantwortlich gemacht, sondern auch Jesus und Paulus aus ihren jüdischen Kontexten entfernt und das antike Judentum als verknöchert, legalistisch und korrupt erachtet haben. Als Antwort auf diese Selbstkorrektur haben wir Juden – die über siebzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an diesem Buch mitgearbeitet haben und viele andere – in Freundschaft und gegenseitigem Respekt reagiert, indem wir die christlichen Anfänge als Teil der jüdischen Geschichte zu sehen gelernt haben. Dabei wurden Jesus und Paulus, Jakobus und Petrus, Maria, die Mutter Jesu, und Maria Magdalena in ihren ursprünglichen Kontext als jüdische Menschen des ersten Jahrhunderts, die nie ihre jüdische Identität verleugnet haben, zurückversetzt.
Die Erkenntnis der gemeinsamen Wurzeln von Christentum und rabbinischem Judentum setzte nicht erst in den 1960er Jahren ein. Deutschland, das Ursprungsland der wissenschaftlichen, historisch-kritischen Interpretation der Heiligen Schriften, war auch das Ursprungsland des wissenschaftlichen, historisch-kritischen Studiums des Judentums (Wissenschaft des Judentums) und der Forderung, dass die Ursprünge des Christentums im Kontext des Judentums der Epoche des Zweiten Tempels verstanden werden müssen. Es geschah in Deutschland, dass Moses Mendelssohn, Abraham Geiger, Leo Baeck und andere auf negative Stereotypen über das antike Judentum reagierten (des von Verleumdern so genannten ‚Spätjudentums’, wobei diese das lebendige Judentum jener Zeit ebenso wie die immer noch blühende jüdische Gemeinschaft ignorierten) und seine ethische Lebendigkeit wiederentdeckten. Es geschah in Deutschland – jedenfalls im Wesentlichen –, dass Jesus und Paulus nach zweitausend Jahren wenigstens von einigen Juden und Christen wieder als Juden des ersten Jahrhunderts entdeckt wurden, die der Beachtung der Tora, dem Tempelkult und der jüdischen Identität eine bleibende Bedeutung beimaßen.
Die Spielarten, wie christliche Leser das Judentum in der Antike und durch die Geschichte hindurch missverstanden und entstellt haben, sind bekannt. Im deutschsprachigen Bereich lässt sich eine Linie ziehen von dem Oberammergauer Passionsspiel, Martin Luthers Schrift ‚Von den Juden und ihren Lügen’ bis hin zum ‚Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben’, das die Nazi-Ideologie unterstützte. Jedoch lässt sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine dauerhafte Bewegung in vielen deutschen Kirchen wie auch bei vielen einzelnen Autoren feststellen, in der es nicht nur darum geht, Lehren der Vergangenheit zurückzuweisen, sondern gegen die andauernden Vorurteile, die sich in der allgemeinen Kultur finden, anzugehen. Die Änderungen im Text des Oberammergauer Passionsspiels, wie sie unter der Regie von Christian Stückl erfolgt sind, stellen ein hervorragendes Beispiel dar.
Die Übersetzung des The Jewish Annotated New Testament ins Deutsche – die erste Übersetzung dieses Buches – stellt einen weiteren bedeutenden Beitrag in diese Richtung dar. Unser Dank geht an Prof. Dr. Wolfgang Kraus, der die Idee dieser Übersetzung mit uns entwickelt hat, an Dr. Florian Voss von der Deutschen Bibelgesellschaft, der das Projekt im Verlag ermöglicht hat, an Prof. Dr. Michael Tilly und Dr. Axel Töllner, die bereit waren, an der deutschen Ausgabe als Herausgeber mitzuwirken, an die Deutsche Bibelgesellschaft, die den Text der Lutherübersetzung zur Verfügung gestellt und das Werk verlegt hat, und an das ‚Institut für christlich-jüdische Studien und Beziehungen’ an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, das sich um die Finanzierung bemüht hat. Wir würdigen ausdrücklich die große Sorgfalt, die die deutschen Herausgeber und Übersetzer an dieses Buch verwendet haben. Schließlich danken wir den deutschen Leserinnen und Lesern, die bereit sind, das Neue Testament in seinem jüdischen Kontext wahrzunehmen und sich damit zu beschäftigen, wie Juden über Jahrhunderte auf christliche Lehren reagiert haben.
Wir haben erlebt, dass wir durch das Studium des Neuen Testaments zu besseren Juden geworden sind, da wir gelernt haben klarer zu sehen, wie unsere eigene Geschichte mit christlicher Theologie und Geschichte verbunden ist – was wir gemeinsam haben und worin wir uns unterscheiden. Wir haben gelernt zu erkennen, wie Texte des Neuen Testaments zu Judenhass führen können, aber auch, was christliche Leserinnen und Leser solchen Interpretationen erwidern können. Die deutsche Ausgabe dieses Werkes zeigt, dass die Zusammenarbeit von Juden und Christen zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit und zu einer besseren Theologie für die Zukunft führen kann. Darüber hinaus zeigt sie einen zentralen Wert, den beide, Judentum und Christentum gemeinsam haben: dass Hass in Liebe verwandelt werden kann.
Amy-Jill Levine
Marc Z. Brettler
8. Oktober 2020
„Jesus und Judas“ lautet der Titel eines Vortrags, den Amos Oz (sel. A.) gehalten hat und in dem er an seinen vielbeachteten Roman „Judas“ anknüpft. Zu Beginn des Vortrags verweist er auf seinen Großonkel Joseph Klausner (1874-1958), der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein bedeutendes wissenschaftliches Buch über „Jesus von Nazaret“ und ein nicht weniger bedeutsames mit dem Titel „Von Jesus zu Paulus“ geschrieben hat.
Amos Oz erinnert sich: „Als kleiner Junge besuchte ich eine äußerst traditionelle orthodoxe jüdische Schule in Jerusalem. Wir wurden angewiesen, jedes Mal, wenn wir an einer Kirche oder einem Kreuz vorübergingen, unsere Augen abzuwenden und in die entgegengesetzte Richtung zu schauen. Als Begründung hieß es: ‚Wir Juden haben seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden, wegen dieses Menschen gelitten.’ Orthodoxe Juden nennen Jesus häufig nicht bei seinem Namen, sondern bezeichnen ihn abfällig als ‚diesen Menschen’. Onkel Joseph aber sagte, das dürfe ich niemals tun: ‚Wann immer du eine Kirche oder ein Kreuz siehst, sieh ganz genau hin, denn Jesus war einer von uns, einer unserer großen Lehrer, einer unserer bedeutendsten Moralisten, einer unserer größten Visionäre.’“ [1]
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