Der Kindergarten war geschlossen. Sie hatte nichts anderes erwartet. Sie radelte an dem flachen, gelben Holzbau vorbei, der ihr Arbeitsplatz war, und weiter zu dem Wäldchen, in dem Angelica verschwunden war. Ein Hase richtete sich aus dem Gras auf. Sie sah sein Profil und die langen, sensiblen Löffel. Ganz ruhig blieb er sitzen und ließ sich von ihr keine Angst einjagen. Sie dachte an ein Buch über Hasen oder Kaninchen, das sie sich einmal ausgeliehen hatte. Es hatte Unten am Fluss geheißen und war eines der besten Bücher, die sie je gelesen hatte.
Als sie das Wäldchen erreichte, bremste sie und stieg ab. Sie blieb zunächst eine Weile stehen und lauschte, ehe sie das Fahrrad abstellte und abschloss. Langsam trat sie zwischen die Bäume. Das Areal war mit blauweiß gestreiftem Plastikband abgesperrt worden. Hinter der Absperrung sah alles so aus wie immer. Unzählige Male waren sie hier mit den Kindern gewesen, es war ein überschaubarer und friedlicher Vorortwald, im Grunde nicht einmal ein richtiger Wald, sondern eine Ansammlung von Bäumen und Sträuchern, ein Stück Natur zwischen all den Häusern, in dem Kinder Ameisen beobachten und Blaubeeren pflücken konnten.
Sie stand an der Eiche, wo sie den Kinderwagen abgestellt hatte, und berührte sie mit den Fingerspitzen.
Die gefurchte Rinde war kühl, und sie presste ihre Wange an den Stamm, bis es beinahe wehtat. Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Es war, als würde ihr der ganze Brustkorb zusammengeschnürt, sodass die Luft nicht mehr hineinkonnte. Sie breitete die Arme aus, versuchte tief durchzuatmen und strengte sich dabei so an, dass ihr Unterkiefer zitterte. Sie geriet ein wenig in Panik und war verunsichert. Und wenn Angelica nun doch bei ihrem Vater war? Wenn er sie mitgenommen hatte und weggefahren war? Sie hätte der Polizei sagen sollen, was sie über Eva und Florian wusste. Aber das fanden die Beamten wahrscheinlich ohnehin heraus. Außerdem hatten sie auch mit Carita gesprochen, und Carita wusste Bescheid. Als Leiterin musste sie über die Familienverhältnisse der Kinder informiert sein. Sie würden Florian bis in das kleine rumänische Dorf verfolgen, aus dem er stammte, und er würde sagen, jetzt ist sie hier, meine Tochter, sie ist bei mir und sie wird hier eine Weile bleiben, aber ich bringe sie dann wieder nach Hause, gebt mir nur etwas Zeit.
So musste, musste es einfach sein!
Aber da war noch die Sache mit dem Diadem. Das hätte er doch sicher mitgenommen und nicht im Kinderwagen zurückgelassen. Andererseits hatte es unter dem Kissen gelegen, wie hätte er es also sehen sollen?
Magda schloss die Augen, blickte zum Nachthimmel auf und zwang sich, langsam und tief durchzuatmen. Warum war sie eigentlich mitten in der Nacht hierher gefahren? Um Spuren zu finden? Nicht einmal die Polizei hatte das gemacht. Es war dumm, verrückt und konnte sogar gefährlich werden.
»Ist mir scheißegal!«, murmelte sie.
Es war windig geworden. Vielleicht würde es nun endlich Regen geben. Das wäre dringend nötig, denn alles dürstete nach Regen und Feuchtigkeit. Sie starrte zum Gewirr der Äste hinauf, die noch nicht vollständig begrünt waren. Eichen schlugen spät aus. Auf einmal war sie unruhig. Sie musste nach Hause. Im Laufschritt kehrte sie zu ihrem Fahrrad zurück und hatte Schmerzen im Kreuz.
Lieber Gott, mach bitte, dass Angelica bei ihrem Vater ist!
Er blieb in der Wohnung. Sein erster und verzweifelter Gedanke war, dass er sich in Ulrikas riesiges Bett legen und sich weigern würde, aufzustehen. Sie war zwar kräftig gebaut, aber er war stärker als sie. Selbst wenn sie ihre Schwester holte und die beiden gemeinsam versuchen sollten, ihn herauszuzerren, würde es ihm gelingen, sich festzuklammern. Er legte sich breitbeinig auf den Bauch, griff nach den Bettkanten und hielt sich fest, als wären sie schon im Raum, zwei riesige Monsterfrauen, die mit vereinten Kräften versuchen würden, ihn unschädlich zu machen.
»Ulrika«, murmelte er und versuchte das zarte, stille Mädchen heraufzubeschwören, das sie trotz allem ab und an zu sein versuchte.
Nein, es ging nicht. Es war aus.
Und der Deutschunterricht?
Zum Teufel mit der deutschen Sprache.
Ihr Vater würde sich garantiert freuen. Dieser aufgeblasene Direktorenheini. Der Mann hatte sich ihm tatsächlich mit seinem Direktorentitel vorgestellt, als Ulrika ihn das erste Mal zu ihren Eltern mitgenommen hatte.
»Direktor Frölich.« Kein Vorname, nur Titel und Nachname.
»Daniel. Ja also, Daniel Magnusson.«
»Und was macht Herr Magnusson beruflich, wenn man fragen darf?«
»Er studiert, Papa.«
Wie ein Reptil war sie dazwischengefahren, hatte geantwortet und ihm kaum die Chance gelassen zu hören, was der alte Knacker überhaupt sagte.
»So so, aha. Und was?«
»Informatik. Etwas, wovon du sowieso nichts verstehst, Papi.«
Dass er Informatik studierte, stimmte natürlich überhaupt nicht. Sie schämte sich für ihn, das war alles.
Auch ihre Alte würde darüber, dass Daniel als Schwiegersohn abgeschrieben war, erleichtert aufseufzen.
»Die blöde Kuh!«, murmelte er ins Kissen, das schwach nach Ulrika roch, nach irgendeinem Shampoo, das sie häufig benutzte. Auch ihre Eltern waren kräftig gebaut, die Statur hatte sie von ihnen geerbt. Sogar ihre Schwester Karolina war groß wie eine Riesin. Heiligabend hatte er sich im Vergleich zu Ulrika und ihrer Familie wie ein Schneeglöckchen gefühlt. Ja wirklich, genau dieser Vergleich war ihm in den Sinn gekommen. Ein zartes und empfindliches Schneeglöckchen. Er hatte Marzipan für sie gekauft, in Schokolade getunkte Schweinchen. Vier Stück, deren Hintern so breit waren wie ihre. Erst hatte er gar nicht vorgehabt, ihnen etwas zu schenken, aber Ulrika hatte ihn darauf angesprochen, und daraufhin war er losgezogen und hatte die Schweinchen gekauft und für sie außerdem noch eine Geschenkpackung mit lila Schaumbad und einer Seife.
Sie hatte an der Schaumbadverpackung gerochen, und an ihrer Nasenwurzel hatten sich kleine, feine Falten gebildet.
»Ich bade ja eigentlich nie«, sagte sie. »Ich dusche meistens, aber trotzdem vielen Dank.«
Es war eine schöne Vorstellung, ihnen nicht mehr begegnen zu müssen. Ständig hatte er das Gefühl gehabt, mit ihm würde etwas nicht stimmen. Er war nicht gut genug. Aber als ihr Alter einen runden Geburtstag feierte, da war er gut genug gewesen, da hatte er wie ein Butler die Gäste in Empfang nehmen und ihre verdammten Mäntel aufhängen müssen, bis die Garderobe kurz davor war, zusammenzubrechen. Ulrika und ihre Schwester waren in der Küche beschäftigt gewesen, er hatte nichts von ihnen gesehen und sich auch nicht getraut, seinen Platz an der Tür zu verlassen. Er hatte zwischen den nassen Wollmänteln gestanden, und es schneite, und die Leute hatten Probleme, den steilen Hang hinaufzukommen. Aus dem Salon hatte man Lachen und Stimmengewirr gehört. Er war allmählich hungrig und schließlich wütend geworden. Wo war Ulrika?
Als mindestens eine Stunde lang kein neuer Gast eingetroffen war, hatte er auf die Toilette gemusst, war zum Badezimmer gegangen und hatte vorsichtig die Tür aufgezogen, sie augenblicklich aber wieder geschlossen, denn es war besetzt gewesen, zwei Personen hatten sich in dem Raum aufgehalten, ein Mann und eine Frau. Der Mann war einer der Gäste gewesen, soviel hatte er noch sehen können. Später war ihm der Gedanke gekommen, dass die Frau eventuell Ulrikas Mutter gewesen war. Obwohl er das nicht überprüfen konnte und im Übrigen auch gar nicht wollte, das Lotterleben der Oberschicht ging ihn nichts an. Sie wollten doch immer so vornehm sein. Und dann benahmen sie sich wie pubertierende Jugendliche auf einer Fete in einer sturmfreien Bude.
Es war ihm so vorgekommen, als wäre es der Alten seither schwer gefallen, seinem Blick zu begegnen. Aber das konnte er sich natürlich auch eingebildet haben. Er erwähnte die Sache Ulrika gegenüber nie.
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