Sie schlief, aber tief in ihr kämpfte etwas darum aufzuwachen.
Mama, dachte sie, brachte das Wort aber nicht heraus, ihr Mund lag schlaff und offen.
Das schöne Kleid, wie Sonne und Nebel, schau mal, Angelica, was bist du nur für eine kleine Elfe!
War jetzt das Fest, was war aus dem Fest geworden?
Sie schlief, und im Schlaf ertönte der Klang von Stimmen.
Mama und Papa, es schrillte und schepperte.
Geh weg, dachte sie. Mama und ich. Nur wir zwei.
Ihr Hals tat weh, wenn sie so dachte.
Papa war so lieb, er schenkte ihr ganz tolle Sachen. Sie legte sich dicht an die Wand in ihrem kleinen Kinderzimmer, warte hier, Papa und ich müssen uns unterhalten. Das Diadem drückte gegen den Kopf. Sie hatte es in einem Paket bekommen, er hatte ihr geholfen, die Schnur zu lösen.
Papas kleine Prinzessin.
Oh, das will ich im Kindergarten anziehen.
Ja, das darfst du auch. Aber du musst gut darauf aufpassen, denn es hat viel Geld gekostet.
Seine Finger mit dem Tabakgeruch.
Viel, viel Geld.
Und dann:
Geh ein bisschen in dein Zimmer, Angelica. Mama und ich müssen uns unterhalten.
Sie würde es in den Kindergarten mitnehmen. Die anderen würden es schön finden und ganz neidisch sein. Aber keiner würde es anziehen dürfen, auch nicht Mimmi oder Isabelle. Sie könnten es kaputtmachen. Sie kapierten nicht, dass man mit so teuren Sachen ganz vorsichtig sein muss.
Ihre Hände lagen dicht, ganz dicht an den Ohren. Hatten sie nicht bald genug geredet? Sie musste Pipi, ihre Hände lagen auf den Ohren und sie dachte: still. Mechanisch begann sie zu singen, lauter, immer lauter und schrill. Aber das nützte nichts. Nichts in der Art konnte helfen, das wusste sie, und die Tür war geschlossen, aber dennoch drangen die schweren Geräusche von Stoff und Haut herein, und dann Mama:
Sie klang wie ein Welpe.
An-ge-li-ca. Sie dachte an ihren Namen und war jetzt ein Fisch. Ganz tief schwamm sie, fast platt auf dem Grund, sie war einer dieser grauen komischen Fische mit Stachelzähnen. So einen hatte sie gesehen, als sie mit Papa in dem großen Meerwasseraquarium war – was für ein komisches Wort, sie konnte es gar nicht richtig aussprechen. Sie waren auch in den Vergnügungspark gegangen, der Gröna Lund hieß.
So was darfst du mit Mama bestimmt nie fahren, Mamas trauen sich nämlich nicht auf so etwas.
Sie schrie mit dem Mund an seiner Hemdbrust.
Als sie sich übergab, drehte er ihren Kopf weg.
Möchtest du ein Eis? Möchtest du Zuckerwatte?
Möbel schabten über den Boden. Mama schrie oder sang. Ihren Papa hörte sie nicht, aber sie dachte an seine Augen, wie sie aussahen, wenn sie etwas angestellt hatte, an seine Finger und Daumen, die sich drehten. Und dann schoss seine Hand explosionsartig gegen ihre Nase.
Plötzlich wusste sie, dass ihr Papa gegangen war. Sie hatte es nicht gehört, aber da war etwas mit der Luft. Mama, piepste sie, und es war ihre Fischstimme, die kleine, winzig kleine Blubberstimme.
Aber sie musste alleine aufstehen und die Tür öffnen. Mama war im Badezimmer, hatte die Tür zugemacht und abgeschlossen.
Es roch irgendwie besonders, wenn Papa da gewesen war. Es roch süßlich und gleichzeitig ein wenig verbrannt.
Mamas Stimme durch das Wasserrauschen:
»Liebes, Mama kommt sofort. Setz dich so lange auf die Couch und warte.«
Und sie saß mit gestreckten Beinen auf der Couch und drehte das Diadem, bis Mama mit feucht glänzendem, aufgedunsenem und verzerrtem Gesicht herauskam.
»Papa ist lieb«, sagte sie fragend.
Mama nickte.
»Ja. Aber jetzt wird Mama den Fernseher anmachen, es ist Kinderstunde, die dürfen wir nicht verpassen.«
Sie hatte in dem Kinderwagen gelegen, obwohl sie eigentlich viel zu groß für so etwas war, denn der Wagen war für die kleineren. Für die Kleinkinder.
»Mein Gott, wie heiß du bist!«
Magda, dachte sie, und es zuckte in ihren Gliedern. Ihre Schläfen pochten, und hinter den Augen scheuerte es wie Sand.
»Du wirst hier ein wenig liegen bleiben und dich ausruhen müssen.«
Sie hatte ihr Ohr in das Kissen gepresst und durch den Stoff die Räder über den Schotter knirschen gehört. Jemand quengelte, es war Mimmi, ich will auch im Wagen fahren.
»Ein anderes Mal, denn jetzt ist Angelica an der Reihe, sie ist heute ein bisschen müde.«
Ein singender, rasselnder Laut.
Sie schwitzte, sie lag in ihrem Kleid in dem Wagen.
Was war dann passiert? Sie wurde herausgehoben, aber es ging alles ganz schnell, und sie sah nichts, denn es war schwarz vor ihren Augen, vor ihrem ganzen Gesicht war es schwarz, und sie dachte an Samt und Moos. Ein Arm schob sich unter ihren Bauch, und sie wurde getragen oder flog.
Mama, keuchte es in ihr.
Aber das waren keine Mamahände, keine Magdahände, keine Hände, die sie kannte.
Mimmi, die den Wagen umgekippt hatte? Mimmi, die knuffte und stieß, sie musste sich mit aller Kraft festklammern.
Da hörte sie zum ersten Mal die neue Stimme.
»Ganz ruhig, Kleines, hab keine Angst.«
Sie lag da, und es roch nach Auto, und etwas Spitzes stach in ihr Bein. Tränen traten ihr in die Augen, und sie versuchte zu schreien, erkannte ihre eigene Stimme aber nicht mehr wieder.
Etwas floss wie Sirup in ihrem Körper.
Danach erinnerte sie sich an nichts mehr.
Sie konnte nicht schlafen. Sie hatte versucht, wie jeden Abend ins Bett zu gehen, sich an die alltäglichen Gewohnheiten zu halten. Aber nichts funktionierte mehr wie sonst. Sie war völlig überdreht, Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Schließlich schlug sie die Decke zur Seite und stand auf. Das Nachthemd war feucht, und trotz der Wärme bekam sie eine Gänsehaut.
Angelica, was habe ich nur getan, was machen die mit dir?
Die Polizei war gekommen, sie hatte gesehen, wie die Streifenwagen auf dem Wendeplatz parkten. Sie hatte Angst bekommen, war aber gleichzeitig erleichtert gewesen. Immer wieder hatte sie erklären müssen, wie sie den Wagen im Schatten des Baumes stehen gelassen hatte und dass sie sich nur für kurze Zeit entfernt hatte. Wenn sie den Beamten erzählen sollte, wie es war, als sie zurückkehrte, musste sie jedes Mal weinen. Eine Polizistin tätschelte ihre Hand. Ihre Augen waren voller Mitleid.
»Haben Sie eine Vermutung, was passiert sein könnte?«
Florian, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie sprach den Namen nicht aus, schüttelte nur den Kopf. Tränen liefen ihr den Hals hinab, und der Pullover wurde nass.
Auf dem Hof stand Carita und nahm die Eltern in Empfang. Bedauerte, erklärte und tröstete. Es waren keine lauten Stimmen zu hören, sondern nur ein säuselndes Murmeln, eine ungewohnte, plötzliche Stille. So leise war es sonst nie in den Räumen des Kindergartens, nicht einmal, wenn Mittagsschlaf gehalten wurde.
Der Arm der Polizistin war sonnengebräunt und von kurzen, feinen, blonden Härchen bedeckt. Ihr Kajal war ein wenig verlaufen, vielleicht wegen des grellen Sonnenlichts.
»Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, egal was, rufen Sie uns bitte an! Hier ist die Nummer. Sie können mit mir sprechen oder mit ihm dort er heißt Greger. Im Grunde können Sie natürlich mit jedem unserer Kollegen sprechen, aber fragen Sie ruhig erst nach uns. Tun Sie das bitte!«
Die Polizisten nahmen sie mit in den Wald. So machte man es auch mit Tatverdächtigen, das wusste sie, man führte sie herum. Wie Kühe. Sie hatte eiskalte Fingerspitzen, musste ihnen alles zeigen.
»Hier habe ich den Kinderwagen abgestellt, da unten waren Kattis und die anderen Kinder. Und da drüben bin ich reingerobbt, weil ich dachte, ich hätte ein paar Buschwindröschen gesehen, Sie können es selber sehen, ich glaube, die Stiele, die ich abgebrochen habe, liegen noch da.«
Читать дальше