Marie Louise Fischer
Saga Egmont
Adoptivkind Michaela
Adoptivkind Michaela
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, ( www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany ( www.ava-international.de)
Originally published 1967 by F. Schneider, Germany
Copyright © 1962, 2017 Marie Louise Fischer Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711719572
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Es war schneidend kalt.
Die Straßenlaterne vor der kleinen Villa in München-Bogenhausen brannte schon längst, als Schneiders aus ihrer kobaltblauen Limousine stiegen. Sie hatten bis nach neun Uhr die Frühjahrsmodelle, die am nächsten Montag in die Herstellung gehen sollten, in allen Einzelheiten überprüft. Anschließend hatten sie eine private Verabredung mit einem ihrer wichtigsten Geschäftsfreunde gehabt, die aber im letzten Augenblick abgesagt worden war. So kam es, daß sie an diesem Samstag zwar später, aber immer noch früher als erwartet nach Hause kamen. Erhard Schneider trat als erster in die Diele, ein breiter, untersetzter Mann, dessen spiegelnde Glatze von einem Kranz lockiger grauer Haare umgeben war, die ihm fälschlicherweise das Aussehen eines Künstlers gaben. Tatsächlich war er Kaufmann und nichts als Kaufmann. Er zeichnete verantwortlich für Kalkulation und Vertrieb des Hauses »Schneider & Torsten«, Herstellung von Damenoberbekleidung, während die herbe, kluge Isabella Schneider, geborene Torsten, für die modische Gestaltung und die Herstellung zuständig war.
Ohne besonderes Interesse begann Erhard Schneider den kleinen Stoß Post durchzusehen, der auf dem braungekachelten Dielentisch auf ihn wartete. Es waren fast nur Drucksachen, die geschäftlichen Briefe kamen immer in das Büro der Fabrik, draußen in Giesing. Er wollte die Post schon achtlos in seine Jackentasche schieben, als er plötzlich stutzte.
Isabella trat, ihren Ozelot über dem Arm, näher. »Was ist?« fragte sie. »Etwas Unangenehmes?«
»Keine Ahnung. Ein Brief von Michaelas Schule.«
»Lies doch schon!«
Erhard Schneider riß den Umschlag auf und überflog schnell die wenigen Zeilen. Trotzdem fragte ihn Isabella noch einmal ungeduldig: »Was ist?«
Er ließ den Brief sinken und sah sie an. »Michaelas Versetzung ist gefährdet.«
»Mein Gott!« Isabella nahm ihm den Brief aus der Hand. »Warum hat sie uns davon nichts gesagt?«
»Michaela!« brüllte Erhard Schneider, und als Frau Beermann, die Haushälterin, atemlos die schmal geschwungene Treppe heruntergerannt kam, sagte er, immer noch in beachtlicher Lautstärke: »Wo steckt Michaela?«
»Oh, guten Abend! Ich wußte gar nicht … Sie ist nicht da«, stotterte Frau Beermann.
»Nicht zu Hause?« fragte Isabella erstaunt. »Aber — das verstehe ich nicht ganz!«
»Sie ist fortgegangen, vor etwa einer halben Stunde.«
»Spazieren? Bei der Kälte?« Erhard Schneiders Kopf war rot angelaufen.
»Nein, ich glaube … Sie hat gesagt, sie wolle ins Kino.«
»Da hört sich doch alles auf! Die Schulbehörde schickt uns einen Brief ins Haus — und was tut Michaela? Sie geht ins Kino.«
»Aber, Erhard, sie wußte doch sicher gar nichts von diesem Brief«, versuchte Isabella ihn zu beruhigen.
»Unsinn. Man weiß, ob man versetzt wird oder nicht. Mach mir nichts vor, so etwas weiß man sehr genau.«
Frau Beermann hatte Isabella den Pelzmantel abgenommen.
»Haben die Herrschaften sonst noch Wünsche?« fragte sie.
»Nein, nichts«, sagte Erhard Schneider grob. »Sie hätten besser auf das Kind aufpassen sollen, wozu haben wir Sie denn engagiert?«
»Bitte, Erhard!« Isabella warf Frau Beermann einen entschuldigenden Blick zu. »Es hat wirklich keinen Sinn, alle Welt für diese Sache verantwortlich zu machen.« Sie ging vor Erhard Schneider her in den kostbar und geschmackvoll eingerichteten Wohnraum.
»Du wirst wenigstens zugeben, daß ich dir schon oft gesagt habe …« Erhard Schneider öffnete den kleinen Barschrank, holte eine Flasche französischen Kognak und zwei Gläser heraus.
»Was?« fragte Isabella.
»… daß Michaela faul und oberflächlich ist … Da, lies doch, was der Direktor schreibt!« Er nahm Isabella den Brief wieder aus der Hand. »Da steht es, schwarz auf weiß … Begabt und von schneller Auffassungsgabe, aber völlig desinteressiert und ohne nötigen Ernst. Da hast du es!«
»Sie ist noch jung, Erhard!«
»Sechzehn Jahre. Mit sechzehn Jahren habe ich schon längst als Lehrling gearbeitet, und du —«
»Ach, Erhard, heute ist es doch etwas ganz anderes! Die Zeiten haben sich geändert und …«
Erhard Schneider hatte die beiden Gläser vollgeschenkt und reichte ihr eines. »Ich mache dich ja nicht verantwortlich, Isa«, sagte er in verändertem Ton. »Ich weiß, du hast dich um das Kind gekümmert wie kaum eine andere Mutter. Aber vielleicht ist es das gerade. Wir haben sie zu sehr verwöhnt.«
»Du etwa nicht?«
»Ja, ich auch. Aber ich habe gedacht, daß sie es uns anders danken würde. Was soll nun werden?«
Isabella nahm einen Schluck Kognak. »Nun, das beste wird sein, wir geben ihr jetzt Nachhilfestunden, denke ich … Vielleicht kommt sie doch noch mit. Oder sonst muß sie das Jahr eben wiederholen.«
»Das meine ich nicht.« Erhard Schneider stellte sein Glas hart auf den Tisch. »Glaubst du, daß sie je das Zeug haben wird, die Firma zu übernehmen?«
Ehe Isabella Schneider noch antworten konnte, trat Frau Beermann ein. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie, »draußen steht ein Herr, der Sie sprechen möchte …«
»Wer?« fragte Erhard Schneider böse.
»Er hat mir seinen Namen nicht genannt.«
»Na, erlauben Sie mal! Wie oft sollen wir Ihnen noch sagen, daß Sie niemanden hereinlassen sollen, wenn Sie nicht wissen, wer er ist!«
»Ja, natürlich, Herr Schneider, ich habe das nicht vergessen, nur — er sagte, es sollte eine Überraschung für Sie sein.«
»Eine Überraschung am Samstagabend?«
»Er ist sehr — liebenswürdig.«
Erhard Schneider entging es nicht, daß sie leicht errötete. Eine böse Ahnung stieg in ihm auf. »Na, dann wollen wir mal sehen«, sagte er. »Nein, laß nur, Isa, das werde ich schon allein erledigen.« Er nahm noch einen Schluck aus seinem Glas, dann stellte er es aus der Hand und ging zur Tür.
»Wie sieht er aus, Frau Beermann?« fragte Isabella und runzelte ein wenig die Stirn.
»Gut«, sagte Frau Beermann, »sehr gut, möchte ich sagen. Ein großer, schlanker Herr, schwarzes Haar, ganz glatt, und so hübsche blaue Augen.«
»Ach so.«
Isabella Schneider holte tief Atem, dann öffnete sie ihre Handtasche und zündete sich eine Zigarette an. Mit leichtem Ärger bemerkte sie dabei, daß ihre schlanken, gepflegten Hände zitterten.
»Danke, Frau Beermann«, sagte sie, »ich brauche Sie nicht mehr.«
Sie ließ sich in einen der hochlehnigen Gobelinsessel fallen. Sie fühlte sich müde und zerschlagen. Also war er doch wiedergekommen. Sie hätte es sich ja denken können, einen Menschen wie Till bekam man nie mehr los, wenn man einmal mit ihm in Berührung gekommen war.
Sie spürte zu ihrem eigenen Entsetzen, daß sie ihn haßte. Sie haßte ihren eigenen Bruder, Till Torsten, wie sie nie einen anderen Menschen gehaßt hatte. Sie verabscheute ihn.
Sie konnte sich heute nicht einmal mehr vorstellen, wie es geschehen konnte, daß sie lange Jahre hindurch immer wieder seinem Charme erlegen war. In der Diele standen sich Till Torsten und Erhard Schneider gegenüber. Der schmale, geschmeidige Till wirkte neben seinem schweren, wuchtigen Schwager wie ein Windhund, der um einen Bernhardiner herumschwänzelt.
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