Marie Louise Fischer
Michaela kommt ins Großstadtinternat
SAGA Egmont
Michaela kommt ins Großstadtinternat
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, ( www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany ( www.ava-international.de)
Originally published 1973 by F. Schneider, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719589
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Schreck in der Morgenstunde
Es war das gleiche wie jeden Morgen. Michaela Körner saß in der Küche und schlang hastig ihr Frühstück hinunter, während ihre Mutter nebenan im Kinderzimmer die Zwillinge fütterte und trockenlegte. Michaela warfeinen Blick auf ihre Armbanduhr und spülte den letzten Bissen mit einem Schluck Milch hinunter.
„Michaela, beeil dich!“ rief die Mutter. „Du kommst wieder zu spät!“
„Ach was! Ich schaffs schon!“ Michaela sprang auf und stieß den Stuhl zurück.
„Es ist zwanzig vor sieben!“
„Weiß ich!“ Michaela schlüpfte in ihren dunkelblauen Blazer mit den Silberknöpfen und stürzte aus der Küche. „Tschüß, Mutti!“
Frau Körner trat gleichzeitig mit ihr von der anderen Seite her in die kleine Diele. „Hast du auch nichts vergessen?“
„I wo! Alles da!“ Im gleichen Moment überfiel es sie siedend heiß. „Meine Schultasche!“ Sie rannte in ihr eigenes Zimmer mit den schönen Schleiflackmöbeln und dem roten Teppichboden, das im Augenblick jedoch wenig wohnlich aussah. Das Bett war zerwühlt, und es herrschte auch sonst eine wilde Unordnung; Michaela mußte sich dreimal um ihre eigene Achse drehen, bis sie die Mappe fand. „Ich hab sie schon!“ schrie sie triumphierend.
„Sei leise!“ mahnte die Mutter. „Vati ist heute nacht zweimal aus dem Bett geholt worden!“
Dr. Körner war praktischer Arzt, und es kam häufig vor, daß er mitten in der Nacht zu einem Patienten gerufen wurde.
Einer der Zwillinge begann zu brüllen; die Mutter drehte sich um und lief ins Kinderzimmer zurück.
„Sieh lieber zu, daß die Babys still sind!“ rief Michaela ihr nach.
Aber das hörte Frau Körner, die sich bemühte, den kleinen Tom zu beruhigen, gar nicht mehr.
Michaela verließ, die Schultasche unter dem Arm, das Haus. Sie war elf Jahre alt, groß für ihr Alter, trug das kastanienbraune, lange, gelockte Haar kinnlang geschnitten und blickte aus großen dunklen Augen in die Welt. Durch ihre Angewohnheit, die Stirn zu krausen, hatte ihr Gesicht einen trotzig-düsteren Ausdruck bekommen, der ihr aber selber gar nicht bewußt war; sie hielt sich vielmehr für die Liebenswürdigkeit in Person.
Jetzt, noch unausgeschlafen wie meistens um diese Zeit, wirkte sie besonders schlecht gelaunt. Sie schauderte zusammen, denn es war noch kühl. Aber nachdem sie ein paar Schritte gelaufen war, wurde ihr wärmer. Sie gähnte herzhaft und blinzelte zu den Bergen hoch, den Vorläufern der Alpen, die sich am südlichen Horizont erstreckten. Heute hoben sie sich klar und sehr plastisch vom hellen Himmel ab. Michaela schien es, als ob sie jede Kante, jeden Zacken, jeden Graben und jede Schrunde erkennen könnte.
Das Dorf Törwang, in dem Michaela lebte, liegt siebenhundert Meter über der Ebene, durch die der Inn fließt, und als sie nach Norden – ins Tal – blickte, sah sie, daß es von einem weißen Dunstschleier verhüllt war.
Michaela kannte sich aus; sie wußte, daß es ein schöner heißer Tag werden würde. Unwillkürlich seufzte sie und bedauerte sich selber, weil sie in die Stadt – nach Rosenheim – fahren mußte, wo sie seit dem vorigen Herbst das Realgymnasium besuchte.
Aber – zu ihrer Ehre sei es gesagt – es kam ihr nicht eine Sekunde in den Sinn, die Schule zu schwänzen. Dazu bestand auch wirklich kein Anlaß. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht, und alle Schularbeiten waren bereits geschrieben, denn in zwei Wochen gab es Zeugnisse und die Sommerferien begannen.
Zwar war es Michaela schon ein paarmal passiert – genauer gesagt: jede Woche mindestens einmal –, daß sie den Omnibus verpaßte, aber niemals absichtlich. Das hatten ihre Eltern ihr jedoch nicht glauben wollen; sie regten sich jedesmal schrecklich auf. Michaela hatte ihnen versprochen, daß es nie mehr vorkommen sollte, und sie nahm es sich auch selber ganz fest vor.
In der Stadt braucht man, wenn man den einen Bus versäumt hat, nur auf den nächsten zu warten. Auf dem Land aber ist das meist ganz anders. Von Törwang aus fährt morgens nur ein einziger Bus nach Rosenheim, und zwar um Punkt sieben Uhr. Der nächste geht mittags um eins.
Deshalb mußte Michaela jeden Morgen noch vor sechs Uhr aufstehen. Das machte ihr nicht viel aus, wenn sie erst einmal aus den Federn war. Auf ihrem Weg ins Dorf hinunter – Michaela benutzte nicht die Hauptstraße, die einen großen Bogen schlug, sondern eine Abkürzung – gab es allerhand zu sehen. Die Bauersleute arbeiteten schon auf den Feldern und Wiesen, Heu und Getreide wurden eingebracht, Kühe standen auf den Weiden, Vögel zwitscherten in den Bäumen der Obstgärten, und auf den Türschwellen der Höfe räkelten sich die Katzen. Michaela mußte häufig grüßen und viele Zurufe beantworten. Aber sie hielt sich nicht auf, und als sie den letzten Hof oberhalb des Dorfes erreichte, war es erst zehn vor sieben; sie hatte also noch reichlich Zeit.
Nannei, die Tochter des Stuffer-Bauern, stellte gerade die Liegestühle für die Fremden auf. Sie war in die gleiche Klasse wie Michaela gegangen, und die beiden hatten sogar nebeneinandergesessen, solange sie die Hauptschule im Dorf besuchten. Seit Michaela täglich nach Rosenheim fuhr, kamen sie nicht mehr so oft zusammen, und ihre Freundschaft hatte sich allmählich abgekühlt, obwohl sie es beide nicht wollten.
Deshalb war Michaela besonders froh, Nannei zu begegnen. „Grüß dich!“ rief sie. „Wieso bist du schon auf? Du brauchst doch noch lange nicht zur Schule!“
„Das nicht“, gab Nannei zurück, „aber es gibt eine Menge zu tun, besonders jetzt im Sommer.“
„Kann ich mir vorstellen! Aber glaub nur nicht, daß ich mich auf die faule Haut legen darf.“
„Ja, du! Du fährst ja täglich hin und her. Ich weiß schon, daß das anstrengend sein muß!“
„Und wie! Manchmal komme ich erst mit dem Fünfuhrbus nach Hause.“
„Dafür darfst du aber auch was lernen.“
Nannei, die selber gerne auf die höhere Schule gegangen wäre, machte keinen Hehl daraus, daß sie Michaela beneidete.
„Du weißt gar nicht, wie gut du es hast!“ behauptete Michaela. „Ich würde jederzeit mit dir tauschen.“
Nannei spielte an ihren langen blonden Zöpfen; sie war noch nicht für die Schule angezogen, ging barfuß und trug einen verschossenen blauen Kittel. „Das glaube ich dir nicht “.
„Weil du keine Ahnung hast, was wir alles lernen müssen … Latein! Kannst du dir vorstellen, was das für eine schwere Sprache ist? Und dazu ist sie noch tot!“
„Wie ist denn das passiert?“ fragte Nannei verblüfft. „Kann denn eine Sprache sterben?“
„Na klar. Wenn niemand sie mehr spricht.“
„Ach so.“ Nannei wurde rot, weil sie das Gefühl hatte, sich blamiert zu haben. „Warum lernt man sie dann überhaupt noch? Ich meine, wenn kein Mensch sie mehr spricht?“
„In der Medizin ist alles lateinisch. Du weißt doch, ich will Tierärztin werden.“ Michaela machte ein wichtiges Gesicht. „Aber jetzt muß ich sausen.“
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