Marie Louise Fischer
Ulrike kommt ins Internat
Saga
Ulrike kommt ins Internat Ulrike kommt ins Internat (Band 1) Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de) Originally published 1963 by F. Schneider Verlag, Germany Copyright © 1963, 2019 Marie Louise Fischer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726355130
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Es war elf Uhr, als Ulrike Moeller aus der Schule kam — ungewöhnlich früh, denn es war der letzte Schultag vor den großen Ferien — ein wolkenloser verheißungsvoller Sommermorgen.
Noch ahnte sie nicht, daß sich an diesem Tag die Ereignisse anbahnen würden, die ihr Leben von Grund auf ändern sollten.
Ulrike fühlte sich sehr wohl in ihrer Haut, war mit sich und der Welt vollkommen zufrieden. Langsam schlenderte sie, ihre Mappe unter dem Arm, zwischen den Gruppen und Grüppchen der anderen Mädchen über den Schulhof und auf die Straße.
Sie wollte grade die Richtung zur Haltestelle der Straßenbahn einschlagen, als sie den kleinen weißen Sportwagen der Tanten entdeckte. Tante Sonja saß am Steuer und winkte ihr lächelnd zu.
In diesem Augenblick bekam sie einen leichten Puff in den Rücken, und eine fröhliche Stimme rief: „Tschüß, Bohnenstange!”
Ulrike drehte sich nicht einmal um. Sie zuckte nur kurz und verächtlich mit der Achsel, murmelte: „Albern!”
Sie ging weiter, öffnete die Wagentür. „Hallo, Sonja”, sagte sie mit der gemacht tiefen, leicht nasalen Stimme, die sie in der letzten Zeit sehr schick fand, „reizend von dir, daß du mich abholst!” Sie setzte sich, zog die Tür hinter sich ins Schloß.
Tante Sonja ließ den Motor an. „Ich habe in der Stadt Einkäufe gemacht, und da dachte ich . . .” Sie sprach den Satz nicht zu Ende, fragte stattdessen: „Sag mal, Uli, war das nicht eben Gaby Reitmann?”
„Wer?”
„Die dich geschubst hat.”
„Schon möglich. Ich habe sie mir nicht angeschaut. Warum interessiert dich das?”
„Bloß weil ich mir gedacht habe, wir hätten sie doch eigentlich mitnehmen können. Sie wohnt ja nur ein paar Häuser weiter.”
„Ausgerechnet Gaby?” Ulrike sah die Tante erstaunt an. „Wie kommst du auf die Idee? Gaby ist einfach unmöglich.”
Tante Sonja bestand nicht auf ihren Vorschlag. „Wieso?” sagte sie nur, „ich kenne sie ja kaum. Ist sie sehr schlimm? Erzähl doch mal!”
Ulrike hatte es sich auf dem gut gepolsterten Sitz bequem gemacht und streckte die Beine aus. „Ach”, sagte sie, „was soll ich dich mit diesen albernen Schulgeschichten langweilen. Erzähl mir lieber . . . was hast du eingekauft?”
„Nur ein paar Kleinigkeiten”, sagte Tante Sonja, „einen Gürtel und ein seidenes Halstuch für mein weißes Kleid . . .”
„Darf ich mal sehen?”
„Bitte!” Tante Sonja beobachtete aufmerksam die Fahrbahn, während sie den Wagen durch die belebten Straßen der Innenstadt lenkte. „Ich habe dir übrigens auch etwas mitgebracht . . . ein Paar neue Perlonstrümpfe!”
„Oh, danke! Du bist wirklich ein Schatz!” Ulrike drehte sich um und angelte vom hinteren Sitz die Päckchen nach vorne. Sie öffnete die Tüten. „Erdbeerfarben”, sagte sie und betrachtete den weichen Ledergürtel voller Anerkennung, „und das Tüchlein paßt haargenau! Du wirst todschick damit aussehen, Tante Sonja! Wie bist du gerade auf diese Farbe gekommen?”
„Weil das der hübscheste Gürtel war!”
„Kann ich mir denken. Darf ich ihn mir mal ausleihen? Und den Schal dazu?”
Tante Sonja lachte. „Von mir aus. Aber nicht gleich jetzt. Erst möchte ich mich mal eine Zeitlang dran erfreuen!”
„Aber natürlich, Sonjalein”, sagte Ulrike gnädig, „ich bin ja kein Unmensch!”
Sie hatten den stärksten Verkehr schon hinter sich gelassen, überquerten den Fluß und erreichten die Vorstadt mit ihren baumbestandenen schattigen Straßen.
„Wirklich eine gute Idee von dir, mich abzuholen”, sagte Ulrike, „mit der Straßenbahn hätte ich mindestens doppelt so lange gebraucht.”
„Weißt du übrigens, daß Emmys Verleger heute morgen angerufen hat, Uli?” fragte Tante Sonja. „Ach nein, das kannst du ja nicht wissen, du warst ja schon in der Schule. Sie hat einen neuen, ganz dicken Übersetzungsauftrag bekommen, einen modernen französischen Roman.”
„Wirklich? Oh, das freut mich. Obwohl ich finde, daß ihr eine kleine Pause ganz gut getan hätte. Sie hat, meiner Meinung nach, in der letzten Zeit viel zu viel gearbeitet.”
Ulrike und ihre Tante plauderten in dieser Tonart weiter, bis Tante Sonja vor dem kleinen weißen Haus bremste, das Ulrikes Eltern gehörte und in dem sie aufgewachsen war. Wenn jemand anders diese Unterhaltung mit angehört hätte, würde er sie wahrscheinlich sehr sonderbar gefunden haben; denn Tante Sonja war zwar jung, aber immerhin doch eine erwachsene Dame Mitte zwanzig, und Ulrike war zwar lang aufgeschossen, aber doch nur ein Mädchen von knapp zwölf Jahren. Trotzdem sprachen beide miteinander, als wären sie gleichaltrig, und fanden selber gar nichts dabei.
Wie war das möglich? Das kam so:
Ulrikes Vater war Ingenieur. Er hatte vor zwei Jahren einen großen und interessanten Auftrag bekommen. Er sollte den Bau eines Staudammes in Persien leiten. Diese Arbeit sollte mehrere Jahre dauern.
Frau Moeller, Ulrikes Mutter, war sofort bereit gewesen, ihn zu begleiten — aber was sollte inzwischen aus ihrer kleinen Tochter werden? Ulrike war damals zehn Jahre alt. Sie war ein zartes Kind, der Arzt fürchtete, daß ihr das Klima in Persien nicht bekommen würde. Außerdem gab es dort, wo der Staudamm errichtet wurde — in der Nähe einer kleinen Stadt ganz im Inneren des Landes — keine deutsche Schule.
Frau Moeller wollte ihre Tochter nicht allein lassen, Herr Moeller wollte nicht ohne seine Frau fahren. So hätte Ulrikes Vater beinahe auf den ganzen Plan verzichten müssen, wenn, ja, wenn die Tanten nicht gewesen wären.
Tante Sonja und Tante Emmy waren Mutters Schwestern, sie lebten beide als Junggesellinnen in einer kleinen Atelierwohnung mitten in der Stadt. Tante Sonja war Sekretärin in einer Bank, und Tante Emmy verdiente ihren Lebensunterhalt, indem sie Bücher aus der englischen, der französischen oder auch der italienischen Sprache ins Deutsche übersetzte. Sie arbeitete zu Hause.
Diese beiden Tanten boten den Eltern an, Ulrike zu sich zu nehmen. Aber ihre Wohnung war zu klein. So schlugen sie vor, sie weiterzuvermieten und während der Abwesenheit von Ulrikes Eltern in das kleine weiße Haus in der Vorstadt zu ziehen.
Natürlich waren Herr und Frau Moeller sehr besorgt. Es wurde noch viel überlegt und beraten und hin und her geredet, aber eines Tages war es dann doch soweit — Ulrikes Eltern flogen nach Teheran, und Ulrike blieb mit ihren beiden Tanten zu Hause zurück.
Die drei vertrugen sich prächtig. Die beiden Tanten fühlten sich zu jung, um Mutterstelle an Ulrike zu vertreten; so behandelten sie ihre Nichte wie eine Kameradin. Und Ulrike fand das wundervoll. Ohne daß sie es selber merkte, gewöhnte sie sich an, wie die Tanten zu reden und sich wie eine große Dame zu benehmen. Es gab niemanden, der ihr gesagt hätte, daß sie eben doch noch ein Kind war.
Als Ulrike diesen Samstag mittag nach Hause kam, stieg sie aus dem Auto und öffnete für Tante Sonja das Gartentor und die Garage. Wenige Minuten später gingen sie — Ulrike bei Tante Sonja eingehakt — von hinten durch den kleinen Garten auf das Haus zu.
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