„Wirklich nicht? Dann muß ich wohl deutlicher werden. Sonja und Emmy sind erwachsene Damen und dazu noch deineTanten . . . und wer bist du? Ein altkluger, vorlauter kleiner Fratz. Du weißt sehr genau, daß du Tante Sonja und Tante Emmy zu ihnen sagen mußt. Das gehört sich einfach.”
Ulrike stand einen Augenblick ganz starr. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und lief ins Haus zurück. Niemand sollte ihre Tränen sehen. Sie rannte die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, warf sich quer über ihr Bett und schluchzte bitterlich.
Seit Jahren hatte niemand mehr so mit ihr gesprochen. Dabei hatte sie doch gar nichts Unrechtes getan! Der Vater hatte von Anfang an etwas an ihr auszusetzen gesucht. Wenn er sie nicht mehr lieb hatte, warum war er dann überhaupt wieder nach Hause gekommen? —
„Du darfst mit Uli nicht so schimpfen”, sagte Tante Sonja unten auf der Terrasse.
„Und warum nicht, bitte? Ihr seid viel zu zimperlich mit ihr umgegangen. Eine Standpauke ist gerade das, was ihr gefehlt hat.”
„Das kann ich wirklich nicht finden, Ulrich”, sagte Tante Emmy, „deine Angriffe waren tatsächlich ein bißchen ungerecht. Wenn es dir nicht paßt, daß Ulrike uns manchmal bloß mit den Vornamen anredet, dann mußt du es uns sagen. Es ist unsere Schuld, wir haben es ihr durchgehen lassen.”
„Eben. Ihr seid nicht streng genug mit ihr.”
„Zum Strengsein”, sagte Tante Sonja, „hatten wir auch keinen Grund. Ulrike hat sich wirklich immer tadellos benommen. Wir haben wie drei gute Freundinnen zusammen gelebt.” Sie sah Herrn Moeller kampfeslustig an.
Er zog es vor, sich auf keine Auseinandersetzung einzulassen. „Ich will euch ja keine Vorwürfe machen”, sagte er, „wir haben allen Grund, euch dankbar zu sein, daß ihr euch all die Zeit um Ulrike gekümmert habt. Nur . . . ich habe mir das Wiedersehen mit meiner Tochter anders vorgestellt.”
„Wenn man sich zu sehr auf etwas freut”, sagte Ulrikes Mutter, „wird es meist eine Enttäuschung. Sie ist uns ein wenig fremd geworden, das ist alles. Zwei Jahre machen im Leben eines Kindes viel aus. Wir müssen uns erst wieder aneinander gewöhnen.”
Zum Mittagessen erschien Ulrike mit blanken Augen und gleichmütiger Miene — sie hatte ihr verweintes Gesicht lange in kaltem Wasser gekühlt, bevor sie hinunterging. Niemand, am allerwenigsten der Vater, sollte es merken, wie gekränkt sie sich fühlte.
Moellers aßen in der Wohnküche.
Nach der Suppe gab es Hähnchen am Grill, Salat und Reis. Ulrike stand auf und half Tante Emmy den Tisch umdecken. Sie räumte die Suppenteller ab, setzte die große Salatschüssel in die Mitte. Vor ihren eigenen Platz setzte sie eine andere, viel kleinere.
Die Mutter teilte den Salat aus. „Gib mir deinen Teller, Uli”, sagte sie, als sie den Vater und die Tanten versorgt hatte.
„Nein, danke, ich habe schon!” sagte Ulrike und wies auf ihre kleine Schüssel.
Tante Sonja sah, daß Herr Moeller schon wieder die Stirn runzelte, und erklärte rasch: „Sie hat genau dasselbe wie wir . . . grünen Salat. Nur machen wir ihn ihr mit Sahne, Zucker und Zitrone an und nicht scharf.”
Ulrike sah ihre Mutter an. „Du weißt doch, ich habe Zwiebeln nie vertragen können.”
„Sagen wir lieber . . . du hast sie nie gemocht!” sagte Herr Moeller.
„Ich sehe da keinen Unterschied”, behauptete Ulrike, „ich weiß aus Erfahrung, daß Dinge, die mir widerstehen, mir auch nicht bekommen.”
Herr Moeller schwieg eine Sekunde, dann sagte er: „Unser Urlaub ist begrenzt, Uli. Ich habe nicht vor, ihn mir durch Streitereien mit dir zu verderben. Ich begreife nur nicht, wie ein Kind sich in kurzer Zeit so völlig zu seinem Nachteil verändern kann . . .”
Ulrike konnte sich nicht länger beherrschen: „Was habe ich dir eigentlich getan?” rief sie hitzig. „Den ganzen Tag beschimpfst du mich.” Dann begriff sie plötzlich, daß sie aus der Rolle gefallen war, und setzte rasch hinzu, indem sie so tief und nasal wie irgend möglich sprach: „Entschuldige bitte, Vater, aber mir sind die Nerven gerissen.”
„Nerven!? Was redest du daher? In deinem Alter hat man doch Nerven wie Drahtseile.”
Ulrike zuckte die Achseln und wandte sich an Tante Sonja. „Kann ich ein bißchen Reis haben, Tante Sonja?” Sie betonte das Wort „Tante” auf herausfordernde Weise. „Das Hähnchen schmeckt wirklich köstlich, Tante Emmy!” Sie wandte sich an ihre Mutter. „Ich hoffe, es schmeckt dir auch, Mutti!”
„Oh ja . . . danke, sehr gut”, sagte Frau Moeller, ein wenig verwirrt durch die altkluge Art, in der Ulrike die Unterhaltung zu lenken versuchte.
„Das freut mich”, sagte Ulrike gönnerhaft. „Du sollst dich recht wohl bei uns zu Hause fühlen!”
Man sah Herrn Moeller an, daß er gerne etwas gesagt hätte. Aber er tat es nicht. Er aß schweigend und hastig, war der erste, der vom Tisch aufstand. „Entschuldigt mich”, sagte er, „ich bin müde. Ich werde mich hinlegen.”
Ulrike atmete auf, als der Vater nach oben gegangen war. Sie begann das gebrauchte Geschirr abzuräumen, stellte alles fein säuberlich neben dem Spültisch auf, während Mutter und die Tanten noch eine Zigarette rauchten. Dann ließ sie heißes Wasser in das große Becken laufen.
„Fang noch nicht an, Uli”, sagte Tante Emmy, „warte, bis ich ausgeraucht habe . . . überhaupt, heute mittag solltest du lieber mal gar nichts tun. Geh mit deiner Mutter hinaus in den Garten. Ihr beiden habt euch sicher viel zu erzählen.”
Ulrike warf einen zögernden Blick auf die Stöße von Tellern. „Aber zu zweit sind wir viel schneller fertig, Tante Emmy . . .”
„Die zweite Kraft bin diesmal ich”, erbot sich Tante Sonja. „Geht ruhig schon hinaus. Wir kommen in zehn Minuten nach.”
Uli folgte der Mutter ein wenig befangen auf die Terrasse hinaus.
„Tust du das immer?” fragte Frau Moeller. „In der Küche helfen, meine ich?”
„Nicht nur in der Küche”, sagte Ulrike. „Wir helfen alle drei zusammen, die Tanten und ich, denn so ein Haus macht doch viel Arbeit.”
„Mir ist das früher nie so vorgekommen.”
„Natürlich nicht. Weil du nicht berufstätig warst. Aber die Tanten und ich, wir machen das Haus ja bloß so nebenbei.”
Frau Moeller hatte den Arm um die Schulter ihrer Tochter gelegt und sie in den kleinen Garten hinuntergeführt. Jetzt blieb sie stehen und sah Ulrike mit einem seltsamen Blick an. „Eigentlich müßte ich ja wohl sehr stolz auf dich sein”, sagte sie, „so tüchtig, wie du bist . . . hilfst im Haushalt und bist die Beste in deiner Klasse. Aber tatsächlich . . . sieh mich nicht so an, Uli . . . mache ich mir Gedanken über dich. Genau wie Vater. Du bist so gewachsen . . .”
Ulrike versuchte zu lachen. „Wäre es dir lieber, wenn ich zusammengeschrumpft wäre?”
„Du verstehst mich sehr genau, Uli, du wirst schon wissen, was ich meine! So lang und so dünn bist du . . . und ganz blaß! Kommst du denn nie in die Sonne?”
„Ich kann keine Hitze vertragen”, sagte Ulrike und begann ungeduldig von einem Fuß auf den anderen zu treten. „Hast du das ganz vergessen?”
Frau Moeller seufzte. „Du darfst nicht das Gefühl haben, daß ich dich verhören will, Uli. Es interessiert mich einfach alles, was dich betrifft. Du hast mir ja immer sehr schöne lange Briefe geschrieben . . . aber wie es dir wirklich geht und wie du lebst, das habe ich nirgends herauslesen können.”
„Mir geht es gut”, sagte Ulrike, „merkst du das denn nicht? Es könnte mir gar nicht besser gehen!”
„Anscheinend fühlst du dich so großartig, daß du dich gar nicht mal richtig freust, deine Eltern wiederzusehen.”
„Doch”, sagte Ulrike, „ich habe mich sehr gefreut.”
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