Tante Emmy hatte die Gartenstühle nach draußen gestellt und die Markise heruntergelassen. Jetzt brachte sie in einem gläsernen Krug eisgekühlte Limonade aus dem Haus.
„Da seid ihr ja endlich!” sagte sie fröhlich. „Wir haben grade noch Zeit, einen Schluck zu trinken, dann muß ich mich drinnen um das Essen kümmern!”
„Ich komme sofort”, sagte Ulrike, „ich möchte mir nur eben erst die Hände waschen.”
„Dann nimm bitte meine Päckchen mit hinein.”
Ulrike ging ins Haus, legte die Päckchen auf den Dielentisch, hängte ihren Mantel in der Garderobe auf, brachte die Schulmappe nach oben in ihr Zimmer — sie war überaus ordentlich, und sie war sehr stolz darauf.
Dann wusch sie sich im Badezimmer die Hände, bürstete ihre hellblonden, seidigen Haare sehr sorgfältig, betrachtete flüchtig ihr blasses, schmales Gesicht im Spiegel, lief wieder hinunter und trat auf die Terrasse hinaus.
„Uli, mein Schatz”, sagte Tante Emmy, „trink! Die Limonade wird warm. Hast du einen aufregenden Tag gehabt?”
„Aufregend?” Ulrike hob die schmalen Augenbrauen. „Wieso?”
„Nun, ich denke . . . ihr solltet doch heute Zeugnisse kriegen! Oder etwa nicht?”
„Tatsächlich!” sagte Tante Sonja. „Das hatte ich ganz vergessen! Zeig uns doch mal dein Zeugnis!”
Ulrike hatte es sich auf der Rohrliege bequem gemacht, saugte durch einen langen Halm an ihrer Limonade. „Lohnt sich nicht”, sagte sie ruhig.
Tante Emmy machte entsetzte Augen. „Lohnt sich nicht? Soll das etwa heißen, du hast eine schlechte Note bekommen?”
Ulrike sah sie aus ihren kühlen grauen Augen an. „Traust du mir das tatsächlich zu?”
„Nein, natürlich nicht. Aber warum jagst du mir dann einen solchen Schrecken ein?”
„Oh, das bedaure ich außerordentlich”, sagte Ulrike geschraubt, „es lag ganz gewiß nicht in meiner Absicht, dich zu beunruhigen. Du kannst wirklich unbesorgt sein, Emmylein. Mein Zeugnis ist tadellos. Wie immer.” Nicht ohne Selbstgefälligkeit fügte sie hinzu: „Das beste in der Klasse.”
„Wie wunderbar, Liebling!” rief Tante Emmy begeistert. „Dafür muß ich dir einen Kuß geben!”
„Übertreib nicht, alter Schatz”, sagte Ulrike abwehrend und bemühte sich, ein verlegenes Gesicht zu machen. Tatsächlich aber genoß sie diese Schmeicheleien wie eine Hummel den Blütenhonig.
„Ehre, wem Ehre gebührt”, sagte Tante Sonja lächelnd, „aber ich . . . ich hatte so eine Vorahnung. Deshalb die Perlonstrümpfe. Ich hoffe, daß du wenigstens ein Festtagsessen gekocht hast, Emmy.”
„Oh ja, es gibt schon was Gutes”, sagte Tante Emmy verheißungsvoll, „ein paar kleine Leckerbissen.” Sie stand auf. „Es dauert höchstens noch zehn Minuten.”
Auch Tante Sonja erhob sich. „Warte. Ich helfe dir!”
Ulrike sah gemächlich zu, wie die beiden im Haus verschwanden. Sie fühlte sich als Ehrengast und dachte nicht daran, sich von der Stelle zu rühren. Mit halb geschlossenen Augen schlürfte sie ihre Limonade und blickte in das Blättergewirr der großen Kastanie. Acht Wochen unbeschwerter Ferien lagen vor ihr. Das Leben war wundervoll.
Sie stand auch darin nicht auf, als an der Haustüre geklingelt wurde, sehr scharf und mit Nachdruck — einmal, zweimal und noch einmal.
Erst als Tante Sonja auf die Terrasse gestürzt kam, hob sie den Kopf. Sie öffnete den Mund, aber sie kam nicht dazu, eine Frage zu stellen.
„Uli! Denk dir! Deine Eltern kommen!” rief Tante Sonja vergnügt. „Ja, freust du dich denn gar nicht? Sie kommen, Uli, sie kommen auf Urlaub nach Hause!”
Ulrike sah ihre Tante an. „Das glaub ich nicht”, sagte sie ruhig, „das haben sie schon so oft geschrieben, und nachher ist nie etwas draus geworden.”
„Aber diesmal stimmt‘s! Sie haben ja nicht geschrieben, sondern telegrafiert . . .” Sie wandte sich um und rief ins Haus zurück: „Stell dir vor, Emmy, Uli glaubt mir nicht! Bring doch bitte das Telegramm! Es ist aus Zürich, Uli . . . sie sind schon in der Schweiz. Morgen kommen sie hier an.”
Jetzt endlich stieg Farbe in Ulrikes schmales Gesicht. „Na so etwas!” sagte sie. „Das sieht ihnen ähnlich. Erst bleiben sie jahrelang weg, und dann so ganz einfach . . . ohne Vorwarnung!” Sie schwang ihre Füße auf den Boden und setzte sich auf. „Kommen sie mit dem Flugzeug, Tante Sonja? Darf ich sie abholen? Und was zieh‘ ich an?”
„Was du willst, nur nicht meinen neuen Gürtel und das Tüchlein. Die mußt du in Ruhe lassen.”
Ulrike stand auf, dehnte und reckte sich. „Ich kann‘s noch gar nicht glauben, Tante Sonja . . . ich kann es einfach nicht fassen, verstehst du das? Ich habe immer noch das Gefühl, als wenn es nicht wahr wäre! Nicht wahr sein könnte. Vater und Mutter kommen nach Hause. Glaubst du, daß ich sie überhaupt noch erkenne?”
Als Ulrike am nächsten Morgen mit Tante Sonja zum Flugplatz fuhr, pumperte ihr Herz einen richtigen Trommelwirbel. Sie war ganz durcheinander vor lauter Glück und Erwartung.
Aber weil die Tanten so heiter und gelassen waren, wollte sie es sich nicht anmerken lassen. So zwang sie sich, ein möglichst gleichmütiges Gesicht zu machen, was ihr auch einigermaßen gut gelang. Auf dem Weg zum Flughafen saß sie stumm auf ihrem Sitz und ließ Tante Sonja reden — sie spürte, daß ihr vor lauter Aufregung die Stimme nicht richtig gehorcht hätte.
Es war ungewöhnlich viel Verkehr auf den Straßen, und sie kamen nur langsam vorwärts. Die halbe Stadt schien sich entschlossen zu haben, an diesem ersten Ferientag auf Reisen zu gehen.
Am Hauptplatz gerieten sie in eine Verkehrsstockung. Tante Sonja lehnte sich gemütlich zurück, zündete sich eine Zigarette an. Ulrike konnte nicht stillsitzen; sie rutschte unruhig herum, immer wieder schaute sie auf die elektrische Uhr im Armaturenbrett.
„Glaubst du, daß wir es noch schaffen?” fragte sie heiser, als sie gute sieben Minuten nicht vom Fleck gekommen waren.
„Nur keine Bange!” Tante Sonja drückte ihren Zigarettenstummel im Aschenbecher aus. „Und wenn nicht, schadet‘s auch nichts. Die Zollabfertigung dauert eine ganze Zeit. Bis sie die hinter sich haben, sind wir längst da.”
„Ob sie mir wohl was mitgebracht haben?” platzte Ulrike heraus.
Tante Sonja überhörte die Frage, denn grade in diesem Augenblick setzte die Autoschlange vor ihnen sich in Bewegung, sie mußte losfahren. „Ich glaube, es hat einen Unfall gegeben”, sagte sie, als sie langsam über die Kreuzung rollten.
Diese Worte lösten in Ulrike gradezu eine kleine Panik aus — wenn bloß den Eltern nichts passiert war! Sie hatte oft gelesen, daß Fliegen sehr gefährlich war, viel gefährlicher als Autofahren, und ihre Eltern schwebten jetzt, während sie und Tante Sonja zum Flugplatz hinausfuhren, wahrscheinlich noch hoch in der Luft. Wenn der Motor versagte, der Pilot in Ohnmacht fiel, die Maschine abstürzte!
In dieser Sekunde war Ulrike fest überzeugt, daß sie ihre Eltern nie mehr wiedersehen würde. Sie biß fest die Zähne zusammen, aber sie konnte nicht verhindern, daß sie zitterte.
Erst als Tante Sonja das Auto auf dem großen Parkplatz vor dem Flughafen untergebracht und den Zündschlüssel abgezogen hatte, sah sie, wie blaß Ulrike war.
„Was ist los mit dir, Schätzchen?” fragte sie besorgt. „Ist dir schlecht?”
„Nein”, preßte Ulrike heraus, „kein bißchen!” Sie zwang sich sogar zu einem Lächeln.
Tante Sonja sah sie liebevoll an. „Das ist bloß die Aufregung, Uli! Warte nur, wenn du deine Eltern erst wieder ans Herz drücken kannst, geht‘s dir gleich besser!”
Als sie das langgestreckte Gebäude betraten, erkundigte Tante Sonja sich als erstes am Schalter der Lufthansa und erfuhr, daß die Maschine aus Zürich tatsächlich vor wenigen Minuten gelandet war.
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