»Gib sofort her!«
Binajatjas strenge Stimme hallte durch den ganzen Garten. »Was soll das sein? Ein geheimer Treffpunkt?« Binajatja riss ihr die Rolle aus der Hand. Mino konnte sehen, dass nur ein einziger Satz auf dem Papier stand. Ihre Mutter zog die Brauen hoch und überreichte ihr Ketas Botschaft.
Möwe – erwähne Alika und El Jati gegenüber niemals Blitz’ Frau .
Keine Abschiedsworte. Kein Trost. Nur diese rätselhafte Anweisung. Mino schluckte. Es klang nicht einmal wie eine Bitte, sondern mehr noch wie ein Befehl. Seine Handschrift verriet ihr, wie aufgeregt er gewesen war, als er das geschrieben hatte.
»Und jetzt«, sagte Binajatja streng, »geh ins Haus.«
Mino ließ Alika stehen und ging rasch aufs Haus zu. Am Gartentor drehte sie sich noch einmal um, um der überraschten Freundin wenigstens noch ein Lächeln zu schenken, wenn sie auch nichts sagen durfte. In diesem Moment strich ein leichter Wind vorbei und drückte ihr feines, weites Kleid gegen ihren Körper.
»Du bist ja schwanger!«, rief Alika aus. »Oh Mino, das wusste ich nicht!«
»Still!«, zischte Binajatja. »Sei bloß still, Alika. Du hast dich getäuscht, Mino ist einfach nur nicht mehr so schlank wie früher. Geh rein, Mino, aber sofort.«
Alika war ihr bis an die Pforte gefolgt. »Oh wie schön, Mino! Warte doch!«
Binajatja hielt sie auf, so dass sie dem Mädchen nicht ins Haus nachgehen konnte. »Sei endlich still, Alika! Wenn du nicht sofort deinen Mund hältst, entlasse ich dich und El Jati aus meinem Dienst! Hast du gehört?«
Alika starrte sie an. »Was? Aber warum?«
»Warum? Es geht dich nichts an, warum. Misch dich nicht in unsere Familienangelegenheiten ein, Alika, ich warne dich. Du hast dich getäuscht. Und du wirst mit niemandem darüber sprechen, nicht mit deinem Mann, nicht mit deinen Freunden, mit keinem. Ist das klar?«
Alika war keine Frau, die sich einschüchtern ließ. »Was hast du mit deiner Tochter vor, Binajatja? Sie ist schwanger, das habe ich genau gesehen. Das kommt in den besten Familien vor. Und? Dann bekommt sie eben ein Kind. Wie willst du das auf dieser kleinen Insel vertuschen? Indem du mir den Mund verbietest? Versuch nicht, mir zu drohen. Ich entscheide selbst, mit wem ich über was rede.«
Binajatja war blass vor Wut. »Du wagst es, so mit mir zu sprechen? Wenn ich euch entlasse, habt ihr nichts mehr!«
»Du kannst deine Tochter nicht daran hindern, mit ihren Freunden zusammen zu sein«, beharrte Alika. In ihren dunklen Augen war keine Furcht, sie wich keinen Fingerbreit zur Seite. »Du kannst sie doch nicht gerade jetzt einsperren! Sie braucht Luft und Sonne und den Duft dieses Gartens und das Meer und die Bäume. Und Menschen an ihrer Seite. Wer wüsste das besser als ich? Man ist so empfindlich in dieser Zeit … Mino ist meine Freundin und ich werde nicht dabei zusehen, wie du ihr diese wunderbaren Monate verdirbst!«
»Ach ja«, sagte Binajatja langsam. »Du bist ja auch schwanger, nicht wahr, Alika?«
»Ja, das bin ich«, sagte Alika stolz.
»Im Frühjahr? Hast du mir das nicht vor ein paar Wochen gesagt? Im Frühjahr, nicht?«
»Lenk jetzt nicht ab, Binajatja!«
»Ich lenke nicht ab, ich denke nach.« Kurz entschlossen hielt Binajatja die Tür auf. »Komm rein, Alika. Ich habe etwas mit dir zu besprechen.«
Mino hatte fast vergessen, wie mild der Winter auf Arima war. Zu einer Zeit, in der sie davon träumte, mit Keta durch den Schnee zu stapfen, saß sie draußen im Garten und trank den süßen Früchtetee, den Alika für sie beide regelmäßig kochte. Stundenlang redeten sie miteinander. Seit Jati befördert worden war – als Folge ihrer Vereinbarung mit Binajatja –, brauchte Alika kaum noch zu arbeiten. Sie kümmerte sich um Binajatjas Blumen, aber die meiste Zeit sorgte sie sich um Binajatjas Tochter.
Der Winter bescherte ihnen einen blassen, wolkigen Himmel, unter dem alle ihre Bewegungen sanft und verträumt wurden. Kugelrund saßen sie nebeneinander und spielten das Spiel: »Wessen Baby sich zuerst bewegt, der hat gewonnen«.
»Denkst du viel an Norha?«, fragte Alika.
Mino lächelte. »Es überrascht dich vielleicht, aber das tue ich tatsächlich.« Immer, wenn Blitz vor ihr auftauchte, wischte sie sein Bild entschlossen fort und dachte an Norha. Immer, wenn Blitz’ schwarze Augen sie in ihren Träumen anschauten, gab sie sich einen Ruck und erinnerte sich an ihr letztes Gespräch mit Norha, bevor er abgereist war.
Sie hatte sich in weiser Voraussicht an den Esstisch gesetzt, so dass die Holzplatte ihren Bauch verbarg. Als Norha vor sie hintrat, bemühte sie sich, ihn anzusehen. Es fiel ihr schwer; irgendwie glitt ihr Blick ständig an ihm vorbei, an seinem glatten Gesicht, seinen Augen, die auf sie so merkwürdig zurückhaltend wirkten. Wie anders waren Blitz’ Blicke gewesen! Dunkel und feurig, und wenn er einen Raum betrat, dann erfüllte er ihn ganz mit seiner bloßen Anwesenheit. Dagegen war es leicht, Norha zu übersehen oder zu vergessen, dass er da war oder dass es ihn überhaupt gab.
Zögernd setzte er sich ihr gegenüber, die Verlegenheit glühte auf seinen Wangen rot auf.
»Deine Mutter meint, ich sollte in Drian und Sitra Verhandlungen über die Zollgebühren führen. Von meinem Bruder Wikant nehmen sie anscheinend nicht so viel wie von uns. Er ist ein geschickter Verhandlungspartner. Ich hoffe«, Norha räusperte sich, »dass ich etwas für Arima tun kann. Deine Mutter sagte mir, dass sie das als mein Geschenk zu unserer Hochzeit betrachtet.«
Sie versuchte, ihn wahrzunehmen, aber selbst der Tisch, an dem sie saß, schien ihr wirklicher als dieser rotwangige Mann. Sie wusste nicht einmal, welche Farbe seine Augen hatten. Vielleicht war der Traum zu stark, vielleicht war alles andere in ihr zu gewaltig und überwältigend: das Kind, die verlorene Liebe, zu viele Sehnsüchte, zu viele Gefühle.
Norha nahm sichtlich all seinen Mut zusammen. »Du musst mich nicht heiraten, Mino«, sagte er, »wenn du nicht willst.«
Sie hörte die Furcht in seiner Stimme – vor Ablehnung, aber auch vor Zustimmung, vor allem, was auf ihn zukam. Und auf einmal konnte sie ihn sehen. Er hatte ein freundliches, unauffälliges Gesicht, von Furcht und Unsicherheit überschattet.
Er war ein Gegenüber, ein Mensch, dessen Wirklichkeit die ihre berührte. Und sie würde ihn nicht belügen. »Norha«, begann sie. »Ich muss dir etwas sagen. Es gibt einen Grund, warum du gerade jetzt abreisen sollst.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, gab er zu. »Ich dachte – vielleicht willst du die Hochzeit hinauszögern?«
Sie sah ihm in die Augen. Sie waren grünlich, mit braunen Flecken gesprenkelt.
»Ich bin schwanger, Norha«, sagte sie. »Deswegen schickt meine Mutter dich fort.« Sie wartete auf seine Reaktion.
Er senkte den Blick auf die Tischplatte. Die Röte in seinem Gesicht stieg höher und kroch über seine Stirn bis zu den Haarwurzeln.
Sie lachte leise. »Meine Mutter hat sich so bemüht, dass du nichts erfährst. Und jetzt sage ich es dir einfach. Bist du nicht entsetzt?«
»Möchtest du jetzt schon heiraten?«, fragte er leise.
Dieses Angebot überwältigte sie, eine Welle von Zuneigung überflutete sie.
»Danke – aber man wird sehen, dass du nicht der Vater sein kannst. Es wird dunkel sein. Alika wird es als ihr Kind aufziehen, zusammen mit ihrem eigenen.«
Er nickte. »Das klingt nach einer guten Lösung. Dann hast du es ganz in der Nähe. Und auf deinen guten Ruf fällt kein Schatten.« Seine Augen streiften ihre helle Haut. Es fühlte sich fast an wie eine Berührung.
O B E NI ND E NNordhäfen von Sandart war es das ganze Jahr über kühl und windig. Für Erion, der das milde Klima der Glücklichen Inseln gewöhnt war, war jeder Atemzug wie ein Schlag ins Gesicht. Aber Zukata lachte dröhnend, als sie alle von Bord gegangen waren – seine Piraten, seine Räuber, sein Gefangener. Anders als auf Neiara wirkten sie hier nicht wie eine Invasion, sondern fielen inmitten der vielen Schiffe, der Hafenarbeiter und Seeleute kaum auf.
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