Doch als er an die Männer in der Taverne dachte, erschien das Mädchen wieder in seinen Gedanken. Der leere, unheimliche Ausdruck ihrer Augen ließ ihn erneut frösteln.
Mit dem Gefühl, endlich wieder seit Tagen in Gesellschaft anderer Menschen zu gelangen, betrat er das kleine Gasthaus, das sich ihm auf einem alten, an eisernen Ketten im Wind schwankenden Schild über dem Eingang als ›Knights Head‹ offenbarte.
Hegte er noch beim Anblick des windschiefen, alten Backsteinbaus Hoffnung auf menschliche Gesellschaft und vielleicht ein Gespräch, das seine wirren Gedanken zu verdrängen vermochte, so schlug diese Hoffnung beim Betreten des Gasthauses in pure Enttäuschung um. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und das helle Klingeln einer feinen Glocke über dem Türrahmen verstummt war, blickte er sich niedergeschlagen im dämmerigen Licht der Taverne um.
Die Tische, die er nur als schwarze Schatten im diffusen Schein des schwindenden Tages erkannte, waren verwaist. Eine alte Musicbox am anderen Ende des Raumes war stumm und ausgeschaltet. Der Geruch von Zigaretten, abgestandenem Bier und gebratenem Speck hing in der Luft.
Gerade als sich Mike nach seinem flüchtigen Blick durch den Schankraum wieder zum Gehen wenden wollte, hielt ihn die tiefe, müde Stimme eines Mannes zurück, der hinter der Theke aus dunklem Holz stand und lustlos in einer zerknitterten Zeitung las. Mike hatte den Mann bislang nicht bemerkt.
»Kommen Sie ruhig herein, Mister. Auch wenn es Ihnen nicht so erscheint, aber wir haben geöffnet.«
Mike zögerte, erinnerte ihn die Erscheinung des Mannes hinter der Theke doch augenblicklich an jenes seltsame Mädchen aus der Gasse, obwohl er sich den Grund für diesen Vergleich nicht erklären konnte.
Doch dann trat er näher, wohl auch, um nicht wieder in den Regen hinaus zu müssen. Er ließ sich schwer atmend auf einen abgenutzten Hocker an der Theke nieder und bestellte auf den fragenden Blick des Schankwartes hin ein Bier. Sein Mantel hinterließ einen Ring aus Wassertropfen rund um den Barhocker.
Das ›Knights Head‹ war ein düsterer, niedriger Raum mit dunkel gebeizten Dachbalken und unbehandelten Stützpfeilern, die ebenso finster erschienen wie der übrige Raum. Hinter den kleinen Fensterscheiben konnte Mike das verschwommene Muster des Regens erkennen, doch er bezweifelte, dass der Schankraum des Gasthauses selbst bei hellem Sonnenschein viel freundlicher gewirkt hätte. Dennoch waren ihm dieser Ort und die Gesellschaft des grobschlächtigen, schweigsamen Wirtes im Augenblick lieber, als die trübe Stille seines Hauses jenseits der Trauerweiden.
Der Mann hinter der Theke machte einen müden, abwesenden Eindruck. Er war ein kräftiger Bursche mit ernstem Blick und dichtem, schwarzen Haar, das sein herbes Antlitz, einer dunklen Wolke gleich, einrahmte und unter einem albernen, grauen Hut gebändigt wurde, wie man sie in den Städten trug. Eine ebenso verschrobene Feder steckte in einem dünnen Gummiband. Das Gesicht des Mannes wirkte älter als es wohl in Wirklichkeit war.
Als er Mikes indiskreten Blick bemerkte, legte er die Zeitung beiseite, wischte seine Hände an einer fleckigen Schürze ab, die er um die Taille gebunden trug, und baute sich vor seinem Gast auf. Seine beleibten Armen stützten sich dabei wie Holzpfosten auf der wurmstichigen Theke ab.
»Es kommt selten vor, dass sich Fremde nach Arc´s Hill verirren«, begann er ohne zu zaudern, wobei seine dunklen Augen Mike mit einer Mischung aus Neugierde und Argwohn betrachteten.
»Ich bin kein Fremder«, entgegnete Mike mit müder Stimme und erschrak über die tiefe Verwirrung, die seinen Worten inne lag.
Er griff nach seinem Glas und nahm einen langen kühlen Schluck, der seinen Körper augenblicklich zu erfrischen schien.
»Ich habe das alte Herrenhaus auf dem Hügel gekauft.«
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Mike, einen tiefen Schrecken in den Augen seines Gegenübers zu erkennen. Tatsächlich schien das Gesicht des Mannes eine Spur blasser geworden zu sein, was aber infolge des trüben, schwindenden Tageslichtes auch eine Täuschung seiner Sinne gewesen sein konnte.
»Sie meinen das alte Grady-Anwesen?«
Der Mann griff nach einem Tuch und rieb gedankenverloren über die Theke. Dabei schien sein Blick ins Leere zu gehen. Der Hut warf einen finsteren Schatten über seine Augen.
»Ich kenne es.«
Er hielt in seiner Tätigkeit inne.
»Hat lange leer gestanden, das Haus.«
»Ich weiß. Ich kenne die Geschichte des Hauses und habe im Moment eine Menge Arbeit, es wieder so herzurichten, dass man guten Gewissens darin wohnen kann.«
Mike rollte das Glas zwischen seinen Händen und genoss die angenehme Kühle, die sich auf seinen Fingern ausbreitete. Dann stellte er das Bier auf der Theke ab und blickte dem Schankwirt geradewegs in die Augen.
»Grady … ist das der Name des letzten Besitzers?«
Seine Gedanken kehrten zu dem alten Tagebuch zurück, in welchem er am Mittag gelesen hatte. Waren es Gradys Worte, die in den vergilbten, pergamentartigen Seiten geschrieben standen?
Doch der hünenhafte Mann hinter der Theke enttäuschte ihn.
»Nein. Grady hieß der Mann, der das Haus vor fast einhundertfünfzig Jahren auf dem Hügel vor der Stadt erbauen ließ. Reginald Grady. Hier im Ort nennt man es nur das Grady-Anwesen.«
Der Mann sah Mike in die Augen, doch lag die Ahnung einer tiefen Furchtsamkeit im Blick des Schankwirtes. Als er weitersprach, schüttelte er den Kopf, als versuchte er sich selbst von erschreckenden Gedanken zu befreien. Die Feder an seinem Hut wippte leicht und drohte aus dem Gummiband zu fallen.
Plötzlich wirkte der Mann, der auf Mike den Eindruck eines gutmütigen und schwerfälligen Einsiedlers machte, nervös und aufgebracht.
»Ich will Sie nicht beunruhigen, Mister. Aber Sie haben das Haus eines Wahnsinnigen erstanden.« Er blickte sich hektisch in dem stillen Raum um. »Man erzählt, Grady habe sich mit den Mächten der Finsternis eingelassen und ihnen seine Seele verpfändet. Von seltsamen Dingen und Ritualen ist die Rede.«
Mike hatte gerade einen weiteren Schluck getrunken.
Jetzt aber stellte er sein Glas verwundert auf die Theke zurück.
Er konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.
»Wollen Sie mir erzählen, dieser Grady sei ein Hexenmeister gewesen?«
Der Mann schüttelte den Kopf, wobei sein Blick den seines Gegenübers zu bannen versuchte.
»Schlimmer, Mister. Viel schlimmer. Man sagt, er habe seine gesamte Familie einem Dämon geopfert, den er in seinem Irrsinn anbetete. Seine Frau und fünf Kinder. Und zu guter Letzt verschwand Grady selbst. Spurlos, ohne dass ihn jemand dabei beobachtet hätte, wie er das Dorf verließ. Lediglich seine Familie fand man noch in dem alten Haus vor.«
Der Mann legte eine theatralische Pause ein.
»Abgeschlachtet in ihren Betten.«
Ein kalter Schauer schien Mikes Körper in Eis verwandeln zu wollen. Es gelang ihm nur schwerlich, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen.
»Aber das Ganze ist fast einhunderfünfzig Jahre her. Das sind sicher nur Ammenmärchen, wie man sie sich wohl in jedem abgeschiedenen Landstrich auf der ganzen Welt erzählt.«
Der Wirt schüttelte bedächtig den Kopf. Sein Blick war noch ernster und finsterer geworden.
»Man erzählt sich die seltsame Geschichte des alten Grady seit Generationen. Die Alten erzählen sie ihren Kindern, wenn sie denken, dass diese alt genug für die schreckliche Sage ihrer Heimat seien. Und diese erzählen sie wiederum ihren Kindern. Nein, Mister …« Er trat einen Schritt zurück und musterte Mike kritisch. Fast empfand es dieser, als begutachtete der Schankwirt einen Aussätzigen. »Das, was dort oben in dem Haus geschah, ist kein Ammenmärchen. Es gab viele Familien, die nach dem Verschwinden von Reginald Grady in das Anwesen zogen. Viele verschwanden nach kurzer Zeit ebenso spurlos, wie der alte Mann damals. Und diejenigen, welche das Glück besaßen, nicht der Teufelei zum Opfer zu fallen, die zweifelsohne in den Zimmern dort oben umhergeht …« Der Mann schlug mit der freien Hand ein Kreuz vor seiner Brust. »… waren dem Wahnsinn verfallen und haben das Haus und Arc´s Hill bei Nacht und Nebel verlassen.«
Читать дальше