Der Gedanke erschreckt mich. Und doch erregt er meine schier zügellos zu nennende Neugierde, denn welche Wesen mochten sich in einer derart grandiosen Stadt aus reinstem Licht verbergen? Welches Geschöpf vermochte würdig zu sein, über diese Traumstraßen wandeln zu dürfen? Bin ich es überhaupt? Würdig? Oder bin ich ein Eindringling, in eine Welt, die mein Verstand nicht erfassen kann? Wer oder was hat mich hierher gelockt, um mir die seit Ewigkeiten verborgenen Geheimnisse der namenlosen Stadt zu offenbaren?

An dieser Stelle des mit zitternder Handschrift verfassten Textes beendete Mike das Lesen. Obwohl er das Haus bisher nur selten geheizt hatte, stand kalter Schweiß auf seiner Stirn. Eine merkwürdige Entkräftung hielt ihn mit eisigem Griff gefangen.
Er konnte nicht sagen, ob dies am trüben, trostlosen Tageslicht lag, das düster durch die schmalen Fenster fiel und den Raum nur spärlich zu erhellen vermochte, oder ihn der Traum der Nacht doch mehr erschöpft hatte, als er sich eingestehen wollte.
Vielleicht musste er diese fremdartige Mattigkeit, die ihm fast den klaren Verstand zu rauben drohte, auch jenen Zeilen in dem Tagebuch zuschreiben, so sehr er sich auch dagegen zu wehren versuchte. Trotz jedweden Leugnens erkannte er mit einem eiskalten Schaudern, dass jener unbekannte Verfasser dieser mittlerweile zwanzig Jahre alten Zeilen sich untrüglich auf denselben Traum bezog, welcher Mike in der vergangenen Nacht heimgesucht hatte und an den er sich nur noch bruchstückhaft erinnern konnte.
Noch hegte er die scheinheilige Hoffnung, dass er lediglich der grausigen Täuschung eines intensiven Trugbildes erlegen war. Eine Manifestation, die ihn in ihren Bann geschlagen und offenkundig derart geschwächt hatte, dass sein Verstand tatsächlich versuchte, eine Verbindung zwischen dem alten Text in dem Buch und jenem merkwürdigen Traum zu weben. Doch der Inhalt des abgegriffenen Tagebuches schien dieses Hoffen bereits im Ansatz ersticken zu wollen.
Mike war in seinem bisherigen Leben – jenes, von dem er angenommen hatte, es in dieser Einöde mit Erfolg abgelegt zu haben – ein rational denkender Mensch gewesen.
Er glaubte an die Thesen der Wissenschaft und Ergebnisse, die man mit Zahlen belegen und erklären konnte. Spekulationen oder gar übersinnliche Phänomene waren für ihn stets reine Zeitverschwendung gewesen und gehörten in die Welten von Phantasten und Träumern. Doch irgendetwas in seinem Unterbewusstsein mahnte Mike, sich in dieser Angelegenheit nicht ausschließlich auf seinen Verstand zu verlassen. Eine kleine unangenehme Stimme, deren jämmerliches Aufbegehren er unmöglich ignorieren durfte.
Konnte es denn wirklich sein, dass dieser Mann – der bisher letzte Bewohner dieses abgelegenen Anwesens, sofern Mike den Worten Delwrights Glauben schenken durfte – tatsächlich denselben Traum gehabt hatte, wie er ihm selbst in der letzten Nacht beschert worden war?
Schenkte Mike, entgegen seiner Natur, jener qualvollen Stimme in den Tiefen seines Verstands Gehör, so hatten die Schritte des Mannes dieselben Straßen berührt, die er selbst in seinem Traum aus der Ferne als strahlende Bänder zwischen leuchtenden Häuserzeilen und herrschaftlichen Anwesen erblickt hatte. Die Arbeiten an dem großen Haus schienen Mike zu überanstrengen. Dazu die monotone Abgeschiedenheit des Anwesens von der Stadt. Er hatte in den letzten Tagen und Nächten viel getätigt, sowohl in den verstaubten und verwaisten Wohnräumen, als auch des Nachts in den Verliesen des Kellers. Hinzu fügte sich die psychische Belastung durch den Verlust seiner Familie, die scheinbar immer noch tiefer in ihm steckte und wütete, als er angenommen hatte. Zu dieser Bürde aus Einsamkeit und Schmerz gesellten sich nun noch jene befremdlichen Worte, die er in dem alten Tagebuch gefunden hatte.
Das alles, so befand Mike, war zuviel für seinen geschundenen Seelenfrieden. Was er brauchte war etwas, das seine düsteren, überreizten Gedanken in ihre finsteren Höhlen zurückdrängte und ihm ein anderes Antlitz seiner neuen Heimat preisgab.
So legte er das Buch und die Fotografien auf den kleinen Beistelltisch neben dem antiken Sessel und beschloss zum ersten Mal, seit er Arc´s Hill erreicht hatte, dem Ort einen Besuch abzustatten.
Als er aufbrach, regnete es noch immer. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen, und spannte den Regenschirm auf.
Sofort begann ein dumpfes, rhythmisches Klopfen, das seine Schritte über den schmalen, vom Regen aufgeweichten Fußpfad unter den tropfenden Weiden hindurch bis hinunter in das verschlafene Städtchen lenkte.
Er wusste nicht, wohin er gehen sollte, hatte er es bislang doch versäumt, den Ort genauer zu erkunden. Jedoch hatte er nicht vor, bei dem tristen, kalten Herbstregen länger als zwingend notwendig durch die engen und dunklen Gassen zu spazieren.
Er begegnete nur sehr wenigen Menschen, die trotz des Regens unterwegs waren. Er grüßte alle, doch erhielt er weder eine Antwort noch einen Blick, der ihn als Fremden zeichnete.
Vielmehr traf er auf mürrische, verschlossene Gesichter, die ihre Augen unter breitkrempigen, altmodischen Hüten oder tief gehaltenen Schirmen verbargen und eilends ihrer Wege gingen.
Ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren hingegen, das in einen vom Regen glänzenden Mantel gehüllt war, blieb vor ihm stehen und sah ihn mit ausdruckslosen Augen an.
Mike musterte das Kind, dessen Gesicht bleich und wächsern wirkte, und konnte sich eines eisigen Schauers nicht erwehren, der ihn augenblicklich gefangen hielt.
Das Mädchen neigte den Kopf zu Seite, als betrachtete es etwas, das es nicht verstand. Der Ausdruck ihrer dunklen Augen zeugte von Gleichgültigkeit.
Mike suchte nach den richtigen Worten, um das Kind zu begrüßen, ohne es zu erschrecken. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, ging das Mädchen an ihm vorbei und verschwand mit langsamen Schritten im grauen Dunst des Regens.
Mike sah ihm nach, wie es sich schattengleich von ihm entfernte, fast so, als sei es lediglich ein Gespenst seiner überreizten Phantasie gewesen.
Mit Gedanken, die ihm nun noch verworrener anmuteten, schritt Mike weiter seines Weges durch enge Durchfahrten und finstere Gassen, in deren Pfützen sich der Regen silbern spiegelte. Die verfallenen Häuser zu beiden Seiten der steinernen Pfade erschienen ihm wie sterbende Riesen, die sich in ihrer Resignation gegeneinander lehnten und dem Ende harrten.
Der Gestank von abgestandenem Wasser und Fäulnis hing schwer zwischen alten Backsteinmauern und den hohen Giebeln der verrotteten Häuser.
Außer dem ständigen Prasseln des Regens lag eine fast greifbare Stille über dem Ort.
Er erreichte einen kleinen Platz, in dessen Mitte ein Zierbrunnen aus kupfernen Pfannen und bleiernen Rohren stand.
Um den Brunnen herum waren verschlungene Wege angelegt worden, die von braunem Laub bedeckt und durch niedrig geschnittene Hecken von der Straße getrennt waren. Mike konnte die schwarzen Schatten einiger Bänke erkennen, auf denen sich ebenfalls abgestorbene Blätter und dunkle Zweige häuften.
Gegenüber des Brunnens erblickte er die matte Beleuchtung einer kleinen Taverne. Da der Regen seinen Mantel mittlerweile gut durchnässt hatte und ihm zunehmend kalt wurde, beschloss Mike, auf ein Glas in die Spelunke einzukehren.
Vielleicht schaffte er es dort, in der Gesellschaft anderer Männer, seine trüben und zunehmend furchtsamen Gedanken zu vertreiben. Und wenn nicht dies, so doch zumindest soweit zu bannen, dass ihn diese unerklärliche Müdigkeit wieder aus ihrem eisigen Griff entließ.
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