1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Dort, wo ich das Antlitz des Geschöpfes vermutete, bildete ich mir ein, Augen zu erkennen. Blicke, die mich trafen und meine innersten und geheimsten Gedankengänge erforschten.
Ich spürte seine Gegenwart tief in meiner Seele, eine Berührung, kalt und heiß gleichermaßen. Und doch fiel ich einem Trugschluss anheim, denn da war nichts, das ich als greifbar hätte bezeichnen können. Mal glaubte ich die Umrisse eines Menschen zu erkennen, dann sahen meine Augen die Konturen einer hageren, hoch aufgerichteten Kreatur mit langen Fangarmen und einem widerlichen Schädel, dann wiederum die Gestalt eines Tieres, das sich auf die Hinterbeine aufgerichtet hatte.
Während all dem – all der Sekunden oder Stunden oder gar Jahre – sah ich mich außerstande, mich zu bewegen, meinen Standort zu wechseln oder gar das Geschöpf aus dem Auge zu entlassen.
Dann sprach das Wesen zu mir.
Deutlich hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Ein leises, herrliches Flüstern, ein Raunen, von einer Ebene, weit jenseits allen Denkens und höher, als es selbst der Himmel hätte sein können …
… doch ehe mich der Sinn jener gesungenen und geflüsterten Worte erreichte, wurde ich auch schon von einer schwarzen, harten Faust gepackt und in die Eiseskälte finsterster Nacht gezogen.
Fort vom hellen Glanz der riesigen Tempelhalle.
Fort vom verführerischen Schweigen jener traumerfundenen Stadt mit ihren Palästen und Gärten und Straßen und Brücken und dem glitzernden, silbernen Fluss …
… und fort von dem übersinnlichen Geschöpf, dessen Worte sich in der Leere der Dunkelheit verloren, ehe sie mich erreichten …
… zurück in die von Regen geschwängerte, kalte Nacht und dem, was ich Leben nannte.

Die Traumvisionen waren nur schwerlich zu halten und nichts, das man hätte greifen können. Keine Bilder, keine Stimmen. Nicht einmal die schlierigen Fetzen der Dunkelheit, die ihn zu der prachtvollen Stadt führten, besaßen Substanz.
Fast erschien es Mike, als bestünde eine stabile und doch unsichtbare Grenze zwischen jener Welt, die sein Geist des Nachts erschuf, und der Trostlosigkeit seiner altbekannten Realität, die ihm so viel weniger verlockend anmutete, als seine nebulöse, verschwommene Einbildung eines Traumes.
Alles, was sich in seinem Verstand manifestiert hatte, war lediglich dieses ferne, kaum wahrnehmbare und fremdartige Flüstern, das ihn aus der Ehrfurcht gebietenden Stadt entlassen hatte, bevor es seinen Geist erreichen konnte. Nicht mehr als der Hauch eines sanften Windes über frühmorgendlichen Wiesen, wenn die Halme raschelten und das Blattwerk der Wälder seinen monotonen Gesang anstimmte.
Es waren Worte gewesen. Eine Stimme, die jenes schattengleiche Wesen an Mike hatte richten wollen, bevor ihn die Dunkelheit jäh in die erbärmlichen Fänge leiderfüllter Realität zurückgezogen hatte.
Was war es gewesen, das ihm dieses Geschöpf hatte mitteilen wollen? Welche Worte … welche Botschaft? War Mike auserwählt worden, sie als das vielleicht erste menschliche Wesen vernehmen zu dürfen?
Während der graue Abend sich allmählich in tiefste Dunkelheit wandelte, verschwendete er keinen Gedanken daran, sich um die anfallenden Arbeiten zu kümmern, die seiner harrten in den verwaisten Räumen des alten Hauses. Stattdessen hatte er ein Feuer im Kamin entzündet und sich zurück in den antiquierten Sessel gesetzt. Fast glaubte er, den Geist des seltsamen Charles Ward in seiner Nähe zu spüren, als er seine Hände auf die zerschlissenen hölzernen Armlehnen legte.
Während die Wärme des flackernden Feuers ihn in einen wohligen Mantel hüllte, hielt Mike die Augen geschlossen und versuchte vergeblich, jener fremdartigen, geflüsterten Stimme in seinem Kopf zu lauschen. Sein Bewusstsein reichte nicht so weit, etwas ergreifen zu können, das er nur im Traum erlebt hatte. In der trüben Wirklichkeit dieses verregneten Abends besaß sein Verstand weit weniger Fähigkeiten, zu fühlen und zu begreifen, als er es im Glanz jener betäubenden Stadt tat. Und doch konnte sich Mike eines Gedankens nicht erwehren, der ihn, wenn auch unbewusst, beschäftigte, seit er jenes Paradies des Traumes verlassen hatte.
Es war mehr ein Gefühl, als ein greifbarer und realer Gedanke, doch glaubte Mike, sich zu erinnern, das Flüstern jenes mystischen Wesens auch noch nach seinem Erwachen vernommen zu haben. Nicht etwa als letzter Fetzen eines Traumes, der seinem Begreifen entglitt, sondern als eine reale Empfindung, die ihn seither an seinem Verstand zweifeln ließ.
Die Tatsache, dass sich in dieser schattengleichen Vorstellung das sirenengleiche Flüstern der Gestalt in ein tiefes, donnerndes Grollen verwandelt hatte, tat sein Übriges, Mike in einer Unruhe zurückzulassen, die ihn frösteln ließ. Er hatte das trügerische Gefühl, dass jenes profane Flüstern, das jetzt mehr dem Knurren eines Ungetüms glich, direkt aus der Erde gekommen war …
Nachdem sich Mike in der altmodischen Küche mit dem gusseisernen Ofen etwas zu Essen bereitet hatte, nahm er, entgegen seinem eigentlichen Willen, das alte Tagebuch zur Hand, von dem er nun wusste, dass es ein Mann namens Charles Ward vor rund zwanzig Jahren niedergeschrieben hatte.
Er begann mit einer verstörenden Mischung aus kindlicher Neugierde und furchtsamen Grauen den nächsten Eintrag des letzten Bewohners des Grady-Anwesens zu studieren. Auf dem Tisch neben dem Sessel stand ein weiteres Glas Whiskey. Vor den Fenstern hatte mittlerweile die Nacht ihren Einzug gehalten. Vielleicht traf er in dem Buch auf etwas, das die Barriere zwischen der Traumwelt und seiner scheußlichen, grauen Realität zumindest in seinen Grundfesten zu erschüttern vermochte …

09. Februar 1966
In der letzten Nacht war ich zum Tempel hinaufgegangen. Der Aufstieg war lang und beschwerlich, da sich der kiesbestreute Weg serpentinenartig um den gigantischen Hügel schlängelte. Doch spürt man im Traum weder Schmerz noch Erschöpfung.
Der Anblick der heiligen Anlage auf dem Berg war beeindruckend und fürchterlich zugleich. Nie zuvor, weder im Traum noch im wachen Zustand, hatte ich ein Bauwerk von derart erhabener Gesinnung bestaunen dürfen. Und doch haftete den strahlenden Mauern etwas Bedrohliches an. Ich kann nicht beschreiben, was mich zu dieser Vermutung veranlasste, handelte es sich doch ausschließlich um einen Traum, wie ich mir immer noch einzureden versuche. Doch fühlte ich selbst in diesem schlafenden Zustand eine kalte Faust der Beklemmung, die mich eisern gepackt hielt, während ich den Koloss aus Stein, Kupfer und Gold betrachtete.
Das Innere des Tempels, jene erste Halle, die ich betrat, als ich durch das gigantische Portal ging, glich einer Symphonie aus Weite, Größe und schier unendlicher Glorie, die ich hier mit meinen simplen Worten kaum zu erfassen vermag. Ich hatte das atemberaubende Gefühl, das Tor zu einer anderen, fremdartigen Dimension durchbrochen zu haben. Vielleicht trat ich aber auch einfach nur von einem Traum in den nächsten. Die Halle – falls man sie überhaupt als solche bezeichnen durfte – schien keine physischen Grenzen zu besitzen. Weder in der Länge, noch in der Höhe. Es war eine kunstvolle Ansammlung von Säulen und Torbögen, allesamt verziert mit unbekannten Hieroglyphen und fremdartiger Fresken. Sie muteten als die überwältigenden Arbeiten fremder Kunstschöpfer an, die man sich nur schwer vorzustellen vermag.
Und inmitten dieser hohen, kalten ersten Halle des Tempels bin ich auf dieses Wesen gestoßen. Seltsamerweise erschrak ich nicht, fand ich die Stadt doch bislang verlassen und schweigend vor. Ich kann hier nicht niederschreiben, um welche Art von Wesen es sich handelte. Nicht einmal weiß ich, ob es irdischen Ursprungs war, denn ich kann es nur als schwarzen Schatten inmitten des hellen Scheins der Tempelanlage beschreiben.
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