»He, Naseweis!?«, rief ihm Aliza Berg hinterher.
»Mhm?«
»Wie heißt du?«
»Darfst Fred zu mir sagen.«
»Ich bin Aliza«, antwortete sie, was Fred nicht sonderlich zu interessieren schien.
»Woher kommst du, Fred? Wohnst du hier in der Gegend? Oder kommst du von drüben?«
»Drüben?«
»Na von drüber der Grenze, vom Nachbarland?«
Fred zuckte mit den Schultern, als hätte er sich darüber noch nie Gedanken gemacht. »Manchmal ja, manchmal nein«, sagte er und wandte sich erneut ab.
»He, Schlaumeier!«, rief Aliza. »Was kannst du mir übers Wasser erzählen?«
»Das Wasser? Na ja, es ist nass. Drum kannst du es trinken und reinspringen. Und es hat viel Kraft innerhalb und außerhalb von dir.«
Aliza Berg lächelte. »Danke, Fred. Das werde ich in mein Buch schreiben.«
»Aha, ein Buch willst du schreiben. Dann schreib, dass das Wasser ganz klein ist und auch ganz groß. Dass es einen Anfang hat und doch keinen Anfang. Und ein Ende und doch kein Ende. Und dass deshalb darin das Leben angefangen hat, vor drei Komma acht Milliarden Jahren in den Ozeanen, sagen sie in der Schule, aber ich glaube, das stimmt nicht ganz, und dass die Erde von weit weg aussieht wie ein fliegender Wassertropfen, obwohl sie nur zu einem Prozent aus Wasser besteht und wir Menschen nicht aussehen wie ein fliegender Wassertropfen, obwohl wir zu siebzig Prozent aus Wasser bestehen. So, genug geplappert, schreib das halt einmal. Wir sehen uns!«
»He, was ist mit unserer Wette?! Du hast noch einen Wunsch frei!«
»Nicht so wichtig. Ich schenk ihn dir, darfst dir selbst was wünschen!«, rief er, abgewandt schon, und lief davon.
Aliza war noch gut eine Stunde an diesem Teich geblieben, doch abgesehen von dem, was ihr Fred erzählt hatte, war der Schriftstellerin nichts eingefallen, nichts, was es wert gewesen wäre, notiert zu werden. Sie blickte aufs Wasser, sah darin einen sich wellenden Himmel, ihr sich spiegelndes Gesicht, doch all das wollte ihr nichts erzählen. Es war, als wäre sie vollgeräumt, als besäße sie schon alles, alle Vorurteile getroffen, alle Wahrheiten eingeholt. Gäbe es Neues, fände es keinen Platz, ihr Kopf vollgestellt, verriegelt ihre Sinne.
Dabei wäre da etwas gewesen, Unendliches wäre da gewesen. Im dunklen Wasser unter ihr etwa, nur einen Handgriff entfernt, trieb ein groteskes Holz- und Schilfklümpchen. Gebaut worden war dieses kubistische Ding, dieses Miniatur-Bilbao-Guggenheimmuseum, von einer Köcherfliegenlarve. Ein Origami-Kunststück, zusammengezimmert, geklebt, gestückelt von diesem wenige Millimeter kleinen Würmchen, das womöglich nicht bis ins Letzte wusste, was es tat, doch welch ein Werk! Ein Köcher, geschaffen aus Instinkt, körpereigenem Wissen. Zum Schutz vor Feinden, und nebenbei zum Staunenmachen aller, die es zu erkennen verstanden.
Neben, über und unter der Köcherfliegenlarve: Myriaden anderer Lebewesen. Panzergeißler etwa, Hundertstel Millimeter groß, in deren Mitte eine Rille mit zwei Geißeln, die die Kügelchenwesen durchs Wasser schoben – Pflänzchen mit autonomer Antriebstechnik. Rund um sie katapultierten sich Wasserflöhe durchs Nass, ruckartig tauchend nach den schönsten Stellen. Mit anderer Methode die Hüpferlinge: Keinen Millimeter groß, schwangen sie ihre Ruderantennen am Kopf, steuerten damit dorthin, wo ihr Zyklopenauge ein vielversprechendes Spiel aus Licht und Schatten sah. Kleineres hatte sich auf der Posthornschnecke breitgemacht – eine Kolonie von Einzellern, Millionen von ihnen wuchsen zu einem hellgrünen, winzigen Batzen auf dem schwarz glänzenden Schneckenhaus. Ein Gugelhupfstädtchen, eine Kolonie von Entdeckern, von Landnehmern auf dem spiralförmigen Planeten Posthornschnecke.
Und über ihr, weit, weit über ihr, noch weit über dem im Teich sich spiegelnden Himmel, explodierte in diesem Moment anderes Leben, nur vier Milliarden Lichtjahre entfernt, eine noch nie gesehene Superhelix, sie leuchtete auf in Magenta, Blutrot und Silber, Metatonnen barsten, Kupferglutgeruch. Asche schoss durchs Licht und eine Nanosekunde danach, jetzt, exakt jetzt, wurde eine Galaxie geboren.
Unmöglich hätte Aliza Berg das sehen, riechen, wahrnehmen können. Aber wieso denn nicht?! Natürlich hätte sie! Auf das Allernatürlichste hätte sie es wahrnehmen können! Wer sonst hätte es schmecken, riechen, sehen, hören, fühlen sollen, wenn nicht eine Schriftstellerin? Verborgenes sichtbar machen, Inexistentes benennen, Sterbendes bewahren. Zudem war alles eins. Alles konnte demnach auch alles wahrnehmen. Einsteins spukhafte Fernwirkung: Ein Teilchen reagiert schneller als mit Lichtgeschwindigkeit auf das weit entfernte andere, vollzieht die Veränderung des anderen, als wäre es mit ihm verschränkt. Wie kann das sein, wie soll das gehen nach allen Regeln der Physik? Einfach kann das gehen! Einfach, weil es ein-fach ist! Alles eins, seit jeher. Alles zu erkennen, zu leiden, zu freuen, zu leben, und alles im selben Augenblick, das Kleinste und das Größte. Ans eigene, wild pochende Herz sich greifen. Eins!
Das war der Moment, da Aliza Berg sich fallen ließ.
Vom Ufer aus betrachtet hätte es ausgesehen, als kippte beim Nichtstun ein schwarzgliedriges Tier tollpatschig vom Steg, platschte ins Wasser, durchschnitt dessen Oberfläche, sank nach unten, sank, um auf dem Grund liegen zu bleiben für Momente, für Jahre, zu schlafen einen Traum, und nichts störte mehr dieses Bild vom stromgleichen, unberührt glatten Teich und dem nun leeren Steg.
Bis Aliza japsend auftauchte, schrie vor Schreck und kurzatmig keuchend zum Ufer schwamm. Und dann, unbeholfen wie vor Jahrmillionen die ersten aquatischen Lebewesen, an Land kroch. Sie klatschte ihren triefenden schwarzblusigen, schwarzjeansigen Körper ins Gras. Keuchend drehte sie sich um, durchnässt, prustete, schrie noch einmal einen spitzen Laut Richtung Himmel, Richtung Teich, und dann noch einen, als wollte sie ihre Stimme hören, ihren Atem spüren, das kalte Fell auf ihrer Haut. Und dann lachte sie, wusste gar nicht warum, lachte, lachte, lachte und weinte schließlich beinahe vor Dankbarkeit, vor Dankbarkeit über dieses Lachendürfen, diese Befreiung von sich.
Ich gieße reines Wasser über euch ,
dann werdet ihr rein .
Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust
und gebe euch ein Herz von Fleisch .
BUCH EZECHIEL,
Kapitel 36, Vers 25–26
Aliza zog sich die glitschig nasse Bluse von den Armen, vom Körper. Wasserbesoffen schmatzten ihre Sneakers von den Fersen. Aliza warf ihnen die Socken hinterher, schälte sich aus den an der Haut klebenden Jeans. Sie griff an ihren Rücken, öffnete, es gelang nicht gleich, die Häkchen und legte den BH zur Seite.
Es war vor Mittag, die Sonne teils wolkenverhangen. Aliza bibberte, ihr Körper wie kühl verschnürt.
Sie sah an sich nach unten. Ihre Brüste waren gänsehäutig und nass, wie alles an ihr. Aliza nahm sie in die Hände. Zitterndes barg Zitterndes. Sie lächelte wegen dieses kleinen Staunens. Auch wegen des Gefühls und wegen des Bildes, wie diese Hände, als täten sie es selbstbestimmt, zärtlich und fest ihre kleinen Brüste nahmen.
Im Sitzen ließ sie sich nach hinten in die Wiese fallen. Die Erde war kalt, Aliza zuckte zusammen und widerstand dem Impuls, in die Höhe zu fahren, blieb liegen, ließ den Schrecken zu. Ein Schauer unter ihrer Haut. Sie beobachtete ihn, bis er verebbte. Sie nahm die ersten Sonnenstrahlen wahr, die durch die Wolken brachen. Und das Licht auf ihrer weißen Haut.
An ihrer Schläfe spiegelte ein Wassertropfen die Sonne. Ein anderer kitzelte sie, glitt an der Flanke ihres Bauches nach unten. Aliza streckte im Liegen die Arme von sich, griff nach den Halmen unter ihren Händen, ballte die Fäuste, krallte sich fest am hohen Gras, am Boden. Jetzt trug die Erde sie auf ihrem Rücken. Rücken an Rücken lagen sie, schossen durchs All, unbewegt. Aliza ließ los, sie konnte ruhig loslassen. Einfach loslassen.
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