Für unsere Gespräche, das hatte ich von Beginn an klargemacht, würden zwei Spielregeln gelten. Erste Spielregel: Auf alle meine Fragen würde Elli rückhaltlos ehrlich antworten. Zweite Spielregel: Wäre ihr das aus einem außergewöhnlichen Grund nicht möglich, würde sie nicht schwindeln, sondern von der Ausnahmeregelung Gebrauch machen und somit nicht antworten müssen. Diese Ausnahmeregelung durfte Elli, so hatten wir es ausgemacht, dreimal anwenden. Nur dreimal, solange meine Romanrecherchen auch immer dauern mochten.
Und nun hatte sie einen ihrer raren Joker eingesetzt. Elli hob den Kopf, drehte das Gesicht ein wenig weg von mir. Ihr Ausdruck war der eines Kindes, eines Kindes, wie ich es einmal gewesen bin. Eines Kindes, das wusste, dass es wegen seines Entschlusses auf Ablehnung stoßen würde, das aber nur so handeln konnte. Und das auch ein wenig überrascht war über sich und stolz und zufrieden, der hinzugekommenen Selbständigkeit wegen.
Ich sah sie an. Wie sehr ich sie mochte, dabei kannte ich sie doch noch gar nicht. Vielleicht war es auch, weil sie mir ihr Kindheitsgesicht gezeigt hatte. Wenn mir jemand sein Kindheitsgesicht zeigt, ohne sich dessen bewusst zu sein, bin ich verloren, dann kann er oder sie alles von mir haben. Gegen diese zarte Verletzlichkeit, diese Unmittelbarkeit, diese Wahrheit komme ich nicht an.
Das Gesicht unserer Kindheit. Alles ist darin enthalten, alles, was noch kommen mag, alles, was wir lieben und fürchten. Und auch alles, was wir uns nicht zu wünschen wagen. Und deshalb nie bekommen.
Das Gesicht unserer Kindheit, es ist auch das Gesicht unserer Herkunft, einerlei woher wir kommen, einerlei wer unsere Ahnen waren. Das Gesicht unserer Kindheit, darin gleichen wir uns.
Ich spielte die Empörte. »Was?! Bei meiner allerersten, ein bisschen tiefer gehenden Frage flüchtest du schon in die Ausnahmeregelung?!«
»Ja, feige, nicht wahr?« Elli hob die Schultern, amüsiert und wie machtlos, als hätte auch sie selbst eben erst erfahren von ihrer Entscheidung.
Die Ausnahmeregelung war nicht nur ein Zugeständnis von mir gewesen. Es war auch eine Möglichkeit, meine liebe Gräfin Elisabeth von Hohensinn unbemerkt zu testen. Ja, so eine bin ich. Und nun wusste ich, Elli würde ehrlich sein. Anstatt zu flunkern, hatte sie von der Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht. Für mich war damit eine neue Wahrheit in der Welt: Wenn Elli etwas zusagte, hielt sie sich daran. Im Zweifelsfall würde dieser Frau ihr Wort wichtiger sein als ein rascher Vorteil. Insofern war an ihr eine Schriftstellerin verloren gegangen.
»Nun, Elli, wenn die Ausnahmeregelung jetzt schon notwendig ist, jetzt schon, bevor wir noch richtig losgelegt haben … sei’s drum.« Ich seufzte theatralisch. Und dann, es lag mir schon länger auf den Lippen, und jetzt, jetzt musste es raus: »Scheiß doch der Hund drauf!«
Wir sahen uns an – und prusteten los, Elli befreiter noch als ich.
Aristokraten reden nicht, wie wir uns das ausmalen. So, wie wir uns das ausmalen, reden Aristokraten womöglich, wenn wir dabei sind und sie unter Beobachtung stehen. Dann veranstalten sie für uns so etwas wie einen Maskenball. Dann sind sie wie alle Menschen, spielen die Rolle, die ihnen zugefallen ist, nur dass ihre Rolle außergewöhnlicher ist als die unsere, scheiß doch der Hund drauf. Apropos: Sind Grafen und Gräfinnen unter sich, lernte ich von Elli, sagen sie keinesfalls Toilette. Um Stil bemüht Toilette sagt nur der Pöbel, also unsereins. Unter Fürstinnen und Fürsten heißt der Ort, zu dem selbst der Kaiser zu Fuß sich hinbegab, Klo. Einfach Klo. Oder – Referenz an die Zeit, als das Klo noch ein Holzverschlag außerhalb der Wohnräumlichkeiten war, Häusl. Profan Häusl. So einfach ist das, unter Aristokraten.
Elli führte mich vom Wohnzimmer die geschwungene Steintreppe nach oben, wobei Elli zum Wohnzimmer Salon sagte.
Zur Toilette sagte sie zwar prosaisch Klo oder Häusl, zum Wohnzimmer aber Salon. So kompliziert ist das, unter Aristokraten.
Keine goldgerahmten Gemälde an der Treppenwand. Kein klassischer roter Läufer über den Stufen. Und oben im Korridor, der zu all den Zimmern führte, knarrte kein Dielenboden unter meinen Schritten. Nichts Altes, nichts Altehrwürdiges war da, nur etwas wie ewig Neues, etwas, das sich zeigte und entzog. Als wäre es von einer Kraft geschützt, die nicht erlaubte, dass jede x-Beliebige es angaffend entweihte, ich zum Beispiel.
Von Beginn an wären sie zu sehen gewesen, beim Eintreten ins Schloss schon. Doch selbst jetzt, beim Treppensteigen, wäre ich, obwohl sie so nahe waren, beinahe an ihnen vorübergegangen. Auf der vorletzten Stufe aber wurden meine Beine schwer, es drehte mich nach rechts zur Wand.
»Wie schön!«, hörte ich mich sagen. »Wie unglaublich schön sie sind!«
Endlich hatte ich begriffen. Und nun sah ich sie alle.
»Jede Stufe«, sagte Elli und ihr Zeigefinger tippte durch die Luft, »entspricht Lichtjahren. Je höher wir hinaufgestiegen sind, desto weiter haben wir uns von der Erde entfernt. Das ganz unten war Alpha Centauri C, hinter unserer Sonne der erdnächste Stern, sein Licht braucht nur vier Jahre, bis es uns erreicht. Ist eine neue Aufnahme, wurde erst vorige Woche gemacht. Ein paar Stufen weiter, die übernächste Fotografie nach Alpha Centauri, ja, die da unten, zeigt die Große Magellansche Wolke, hundertsechzigtausend Lichtjahre weit weg. Die anderen sind noch weiter, teils um Potenzen weiter entfernt. Das Universum hat sie vor Jahrmillionen erschaffen. Im Grunde sind es prähistorische Aufnahmen. Das Licht all dieser Sternbilder ist in einem fort unterwegs, auch zu uns, aber die Sterne selbst? Vielleicht sind sie längst erloschen. Vielleicht gibt es die Quellen all dieser Bilder nicht mehr. Es ist, als könnte man einen Menschen in seiner Lebendigkeit und Wesensart ablichten, obwohl er schon gestorben ist.« Elli hielt inne, stützte die Hände am Geländer ab. »Das mag ich so an all diesen Sonnen«, sagte sie, »solange wir ihr Licht sehen, gibt es sie.«
Abermals hielt sie inne. »Ich glaube«, ihr Mund zuckte, doch das Lächeln, das sie wollte, gelang nicht, »ich glaube, jeder einzelne Moment zählt.« Ihr Blick tauchte ab. »Verzeih das Pathos«, sagte sie abrupt. »Wo du jetzt stehst jedenfalls, das ist die Andromedagalaxie, sie ist zwei Komma fünf Millionen Lichtjahre weg.«
Ich blickte in die Tiefen eines violetten, von Sonnen erhellten Spiralnebels. In dessen Mitte schwamm, weiß glänzend, eine offene, von Goldfäden umsponnene Muschelschale. Wie zart die Formation wirkte. Und wie mächtig.
Ein verwirrender Gedanke kam mir, ich sprach ihn aus. »Sind wir beim Stufensteigen Richtung Zukunft gegangen oder mit jedem Schritt tiefer zurück in die Vergangenheit?« Ich versuchte, selbst auf die Antwort zu kommen. »Wenn ein Stern«, sagte ich, »wenn er angenommen eine Million Lichtjahre entfernt von uns liegt … ist er uns dann in der Zeit voraus oder ist es andersherum und wir sind von ihm aus gesehen die Zukunft?«
Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, erkannte ich, wie dumm sie war. Schon wollte ich mich dafür entschuldigen, die Frage zurücknehmen, da sagte Elli, anstatt zu schmunzeln über mich oder mir die naheliegende Antwort zu geben: »Spannend. So habe ich das noch nie gesehen.« Sie überlegte. Und meinte: »Ich glaube, chronologisch der Erde voraus oder hintennach wäre der Stern, wenn sich das gesamte Universum in eine Richtung bewegte, wenn Zeit ein Ziel hätte und, um voranzuschreiten, den Raum nutzte.«
»Wir und der Stern«, ergänzte ich, »wären dann wie zwei hintereinander treibende Schiffe auf einem Fluss.«
Elli widersprach auf die denkbar eleganteste Weise. »So könnte es sein«, sagte sie. »Oder die Zeit bewegt sich nicht wie im Fluss, sondern es ist, als ob man einen Stein in unbewegtes Wasser würfe und damit die Zeit in Gang brächte, die sich fortan in konzentrischen Kreisen ausdehnte.«
Читать дальше