»Er hat wohl gewußt, daß das, was Rune Reiedal hinter der Fassade eines tüchtigen Geschäftsmannes getrieben hat, nicht nur Rune für viele Jahre hinter Gitter bringen könnte, wenn es jemand rausbekommen und aufdecken würde, sondern auch die Leute, die für ihn arbeiteten«, sagte Harry und warf Moss einen düsteren Blick zu. »Aber da war ja Geld zu holen. Viel Geld. Und wer ist schon wählerisch und beharrt auf seinen Prinzipien, wenn ganz offensichtlich in der Gesellschaft kein anderer welche hat!«
»Stimmt«, sagte Moss.
»Die Solidarität ist den Bach runtergegangen«, sagte Harry und aschte ab. »Die Kapitalisten haben alles im Griff, und kein Arsch kümmert sich noch um irgendwas. Das hat sich Kolbein wohl auch gedacht und – na ja, ich weiß, daß er so gedacht hat, und dann hat er sich wohl auf eine weitere Schmuggeltour mit dem großen Lastzug eingelassen, den er von einem Typen namens Næsvik gemietet hat. Wer ist schon ein Prinzipienreiter und denkt ans Wohl der Gesellschaft, wenn die Mächtigen es nicht mehr tun!«
»Und was ist mit Arna, seiner Frau?« fragte Moss und sah kurz zu Tom hinüber.
Er saß mit hängenden Schultern dabei, und man konnte nur vermuten, was er gerade dachte. Oh, Arna habe wohl geahnt, was sich da abspielte, meinte Harry. Tom nickte kurz.
Arnas Nacken hatte noch mehr als früher geschmerzt, und sie hatte doppelt soviel geraucht. Als sie eines Abends mit leuchtenden Augen und roten Wangen nach Hause gekommen war, hatte Kolbein für einen kurzen Moment geglaubt, sie sei mit jemand anders im Bett gewesen. Ihm sei aufgegangen, daß er wohl doch nicht so hoch im Rennen lag, wie er glaubte, hatte er Harry gegenüber gesagt. Doch dann hatte sie ihm erzählt, sie habe zu den Pilgerbrüdern zurückgefunden, einer kleinen freikirchlichen Gemeinde, aus der sie ausgetreten war, als sie seinerzeit Kolbein getroffen hatte, der ein ungläubiger Kerl war und damals nur der Arbeiterbewegung getraut hatte.
»Um so besser«, hatte Kolbein zu Harry gesagt, sobald er sich vom Schock mit den Pilgerbrüdern erholt hatte. »Um so besser! Dann hat sie wenigstens eine Beschäftigung.«
Tom erzählte, daß er selbst immer häufiger mit Freunden unterwegs und nur noch selten zu Hause gewesen sei. Sie hätten zusammen eine Band, die sie »Öl« nannten, das sei natürlich ironisch gemeint, sagte er, lächelte etwas schief und sah Moss durch seine Gardine von Haaren hindurch an. Sie spielten Rockmusik, die sein Vater nicht leiden konnte und als Höllenlärm bezeichnete, weit entfernt von den Beach Boys und anderen Gruppen, die Kolbein und Harry und ihre Kumpels in ihrem Alter gemocht hatten. Arna, die sonst nur Schlagersänger wie Jan Høyland mochte, halte das Gitarrenspiel des Sohnes erstaunlicherweise besser aus als der Vater, aber das liege wohl eher an ihrem Mutterherz als an der Musik, sagte Harry und lachte ein wenig.
Tom sagte nichts.
So verging die Zeit. Kolbein Vågevik transportierte Waren für den Teil von Rune Reiedals Unternehmen, von dem niemand etwas wissen durfte. Ab und zu lieh er sich die Garage eines Vetters draußen in Madla, der ohnehin kein Auto besaß und immer Platz für zwanzig bis dreißig Kanister Alkohol oder Kartons mit Zigaretten hatte, bevor sie weitertransportiert wurden.
Seine Probleme mit dem Magen hätten zugenommen, und er sei immer dünner geworden, sagte Tom. Er habe sich angewöhnt, nachts wach zu sitzen und zu rauchen. Wenn Arna morgens aufgestanden war, um Tom in die Schule zu schicken – er besuchte die letzte Klasse des Gymnasiums –, war das Wohnzimmer grau von altem Zigarettenrauch und das Sofa voller Tabakkrümel gewesen. Kolbein hatte sich nie an Fertigzigaretten gewöhnen können, egal, wie viele Schachteln er sich umsonst hätte beschaffen können.
Arna hatte sich Sorgen gemacht, aber wenn sie darüber reden wollte, hatte er abgeblockt.
»Ach, halt doch den Mund«, hatte er nur gesagt und war aus dem Zimmer gegangen.
Eines Abends hatte sie mit Tom darüber geredet. Hatte erzählt, wovor sie Angst hatte – daß diese Freunde von der Trabrennbahn in größere und schlimmere Dinge verwickelt sein könnten als die Schmuggeltouren nach Kiel.
Tom hatte sie über den Küchentisch hinweg angesehen und mit den Schultern gezuckt. Er trieb sich nicht dort herum, wo sein Vater verkehrte. Zwar wußte er, wer Rune Reiedal war, aber er konnte sich nicht vorstellen, daß der Vater sich traute, nebenher etwas anderes und Größeres als Schmuggel zu betreiben.
Das Schmuggeln war ja außerdem nur ein Gerücht.
Kolbein selbst hatte nie etwas davon erzählt. Er befördere ganz gewöhnliche Waren, sagte er. Das tat er auch.
Zusätzlich.
Eines Tages hatte Tom zusammen mit Harry und dem Typen, der John Dillinger genannt wurde, in der Kneipe gesessen, was er normalerweise nicht tat. Es war reiner Zufall, an ihrem Tisch war ein Stuhl frei gewesen, und sonst war niemand im Lokal, den er kannte.
Seit seiner Kindheit hatte er gewußt, daß die beiden Männer Arbeitskollegen seines Vaters bei Rosenberg gewesen waren.
Sie hatten sich über Fußball unterhalten, und Harry, der gerade seine Spendierhosen anhatte, bestellte dem Jungen ein großes Bier und fand es richtig nett. Er war aufgeräumt und redselig und begann von Kolbein zu erzählen, wie er früher gewesen sei.
»Der war richtig geschickt auf der Gitarre, weißt du. Konnte verdammt gut spielen, dein Vater.«
Tom war hinterher mit zu Harry nach Hause gegangen. Harry hatte irgendwo eine Gitarre stehen, von der er glaubte, daß sie mal Kolbein gehört hatte, aber sie war nicht dort, wo er gedacht hatte, und deshalb setzten sie sich statt dessen hin und tranken.
Plötzlich war die ganze Geschichte aus Tom herausgebrochen.
Vom Vater, der so krank wirkte, und von der Mutter, die sich Sorgen machte und in die Andachten bei den Pilgerbrüdern flüchtete, um Trost zu finden. Schließlich war er so betrunken, daß er zu weinen anfing, wofür er sich am nächsten Tag schämte.
Während Tom Vågevik mit einer Wolldecke zugedeckt auf dem Sofa schlief, saß Harry in der Küche, sah draußen den Tag dämmern, trank starken Kaffee und dachte nach, was ihm nicht immer sonderlich leicht fiel. Und als Tom blaß und übernächtigt, die Hände in die Taschen der Jeansjacke vergraben, an diesem Vormittag nach Hause ging, hatte er ein Versprechen an seine Mutter dabei: Harry Hesthaug würde versuchen, mit Kolbein zu reden.
Sie waren trotz allem Kumpel. Ehemalige Arbeitskollegen. Sie waren doch zusammen zur Realschule gegangen.
Margaret Moss saß im Bett und betrachtete Harry mit dem einen Auge. Sie hatte das Brot gegessen und das Bier getrunken. Tom lehnte wie ein umgeknicktes Schilfrohr an der Wand. Von irgendwoher erklang ein Radio.
»Und haben Sie mit ihm reden können?« fragte sie und dachte, wenn sie jetzt nicht bald eine Kopfschmerztablette bekäme, müsse sie sterben.
Ja, Harry hatte mit Kolbein geredet. Er hatte sich als erstaunlich offen und umgänglich erwiesen, und es hatte den Anschein gehabt, als freue er sich, daß Harry sich Sorgen machte. Es stimmte schon, er sei an einer Sache dran, »einer großen Sache«, hatte er gesagt. Etwas, worüber er nicht reden konnte. Aber er wollte mit der ganzen Sache aufhören. Er kam mit diesem Streß nicht mehr zurecht.
Um was für einen Streß es sich handelte, hatte er nicht gesagt.
Noch am selben Tag hatte er einen Anruf auf dem Handy bekommen, woraufhin er vom Mittagstisch aufgestanden war, mitten beim gebratenen Hering, und gesagt hatte, er müsse los.
Bevor er gegangen war, hatte er sich übergeben. Das hatten Arna und Tom, die in der Küche sitzengeblieben waren, beide gehört.
Tom hatte nicht weiteressen können, sondern gleich nach dem Vater das Haus verlassen. War durch die Straßen gelaufen und hatte bei Harry angeklopft. Es sei dringend, hatte er gesagt. Der Vater sei krank und habe Todesangst, das könne jeder sehen.
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