1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Der Verkehr im Tal war nicht weiter störend. Ich kam an Limas Schanzen vorüber und dachte flüchtig an die Karte aus dem 17. Jh., die mir Marianne, meine alte Nachbarin, gezeigt hatte. Die Festung war darauf mit roter Farbe eingezeichnet. Und oberhalb, auf dem Berg, war ein Signalfeuer durch ein kegelähnliches Zeichen angegeben. Signalfeuer gab es da auch auf dem Kastarberget in Transtrand, dem Middagsberget in Malung und dem Hundflen in Äppelbo. Sie hatten zum Signalsystem des Tals gehört, über das in gefahrvollen Zeiten mittels der Feuer gewarnt wurde. Heutzutage leuchteten die Positionslichter von Funk- und Fernsehmasten auf den hohen Bergen. Wenn Gefahr drohte, würde es nicht ausreichen, ein Feuer anzuzünden. Allerdings musste man die Leute wohl dennoch mobilisieren, dachte ich, heute genauso wie damals. Wenn unruhige Zeiten drohten, musste man zusehen, wie man am besten klarkam. Ich war froh, in einer Gegend zu leben, wo es nichts von Interesse gab, das zerbombt oder erobert werden konnte, war froh, einen eigenen Brunnen, einen Holzstapel, Kartoffeln im Keller und den ganzen großen Wald vor der Tür zu haben. Die Zeiten waren unsicher geworden, das wurde jeden Tag im Fernsehen gezeigt, man musste auf alles gefasst sein. Ich würde ziemlich lange durchhalten können, selbst wenn das, was man Infrastruktur nannte, zusammenbrach.
Warum dachte ich an so etwas? Ich schüttelte die düsteren Gedanken ab und begann zu planen. Ich würde in Lima Halt machen, um Lebensmittel einzukaufen. Und ich würde Åsa anrufen, wenn ich nach Hause kam. Meine geliebte dumme Tochter Åsa, die aus Liebe bis nach Skellefteå hochgezogen war. Es schien sinnlos zu sein, sie näher heranlocken zu wollen. Eine tragische Fehlgeburt hatte sie nur noch enger an Kristoffer gebunden. Er hatte seine Eltern und Verwandten dort oben, und Åsa behauptete, dass sie auch ihre Familie geworden seien. Ich hatte die Leute kennengelernt, sie waren nett. Aber ich fühlte mich beiseitegeschoben, ich war einfach eifersüchtig. Andererseits war es für Jan, ihren Vater, der in Göteborg wohnte, genauso weit zu ihr. Aber er war von Berufs wegen eine Menge unterwegs und hatte daher vielleicht das Glück, sie öfter zu treffen als ich. Seltsamerweise war ich auf diese Tatsache nicht eifersüchtig, ich wollte, dass Åsa ein gutes Verhältnis zu ihrem Papa hatte. Unsere Scheidung hatte nichts mit seiner Rolle als Vater zu tun, begriff ich. Åsa brauchte ihren Vater. Für sie war nur das Beste gut genug.
Vieles in meinem Singleleben war besser als während der Zeit, wo ich noch völlig unbewusst und wie schlafend verheiratet gewesen war. Mit den Finanzen stand es schlechter, aber ansonsten gab es niemanden mehr, dem man die Schuld zuschieben konnte, ich traf alle Entscheidungen selbst und war die ganze Zeit voll verantwortlich für meine eigene Situation.
Aber eine Sache, die entschieden schlechter war, betraf die Mahlzeiten und das Essen überhaupt. Uninteressiert und uninspiriert starrte ich in meinen leeren Einkaufskorb. Die Einkaufswagen waren für Mehrpersonenhaushalte vorgesehen, ich hingegen griff jetzt immer nach einem roten Plastikkorb. Die waren meist verdreckt, was mich irritierte, die schmutzigen Einkaufskörbe wirkten wie eine Verhöhnung von uns Alleinstehenden, die wir offenbar nichts Besseres wert waren, da wir nicht genügend Kaufkraft besaßen.
Ich wusste, dass der Kühlschrank leer war, doch mir wollte einfach nichts einfallen. Sollte ich mir Corn Flakes und Milch einverleiben? Oder vielleicht eine Büchse Sardinen? Knäckebrot und Tubenkäse hatte ich daheim vorrätig, anscheinend war kein Einkauf nötig.
Aber ich war schließlich nicht allein. Ich hatte doch Freunde. Ich hatte auch ein Handy. Wie gedacht, so getan – Maja, du meine beste frühere Kollegin, darf ich dich zu einem kleinen Abendbrot bitten?
Sie war gerade von der Arbeit heimgekommen, ich hatte mich offenbar in dem Moment gemeldet, als sie selbst vor dem Kühlschrank stand, um auf eine Idee zu kommen, denn sie sagte sofort jubelnd zu, bevor ich es mir anders überlegen konnte, wie sie es ausdrückte.
Es würde keinen einsamen Abend geben. Voller Energie machte ich mich über die Gemüsetheke her und begab mich dann zur Tiefkühltruhe – Hähnchenkeulen im Sonderangebot, das ließ sich rasch zubereiten, wir würden eine richtige Prassermahlzeit haben, Maja und ich, abnehmen konnten wir später.
Maja und ein paar andere Freundinnen waren heutzutage in Wahrheit meine Familie. Meist am Telefon, es war das Telefon, zu dem ich abends heimkam. Aber Maja traf ich auch immer öfter persönlich. Es war schön, jemanden zum Reden zu haben, jemanden, der mich verstand und mich so akzeptierte, wie ich war. Maja war eine Superfreundin, ich hatte Glück gehabt. Dennoch gab es eine Menge einsamer Abende vor dem Fernseher, und die hatte ich so satt. Die Fernsehlogik war nicht die meine. Problem für Problem wurde bis zum Überdruss durchgekaut, ohne dass irgendetwas besser wurde, und bei den Filmen ging es fast immer um Mord. Unsicherheit und Angst waren die Gefühle, die das Fernsehen den Leuten suggerierte.
Die Wahrheit sah jedoch anders aus, und ich hatte keine Angst. Tatsächlich gab es nichts zu fürchten, das Fernsehen langweilte mich immer mehr. Ich sehnte mich nach menschlicher Gemeinschaft und persönlichem Kontakt. Natürlich nach einem Mann, aber die wuchsen ja nicht auf Bäumen. Jedenfalls nicht solche, die ich mir vorstellen konnte. Die besten waren vergeben, und die wenigen, die frei waren, konnten aus dem Vollen schöpfen. Björn konnte jede bekommen, die er wollte. Er zog mich nur auf. Zum Glück verstand ich seinen Humor, ja, ich hatte Humor.
Und ich hatte meine Freundinnen.
Der Mann, der bereit war, innerhalb weniger Tage zum Mörder zu werden, hatte in der Nacht einen Traum gehabt, an den er sich noch immer erinnerte, als er nachmittags von der Arbeit kam und die Haustür aufschloss.
Er hatte sonst keine Erinnerung an seine Träume, hatte geglaubt, ihm fehle eine derartige Fantasie. Aber dieser Traum war bedrückend wirklich gewesen. Die Stimmung reine Angst. Er war ein Vogel in einem Bauer – einem viel zu engen Bauer! Er konnte die Flügel nicht voll ausbreiten. Aber er sehnte sich ungemein danach, es zu tun. Die Sehnsucht brannte wie Feuer, und er flatterte mit den Flügeln, immer heftiger und heftiger, obwohl es so eng war. Am Ende waren die Gitterstäbe rot vor Blut, aber er konnte nicht damit aufhören. Er flatterte in Panik und zerschlug die Flügel am harten Eisen des Bauers. Er wusste, dass er nicht aufhören konnte zu kämpfen, bis er tot war.
Ein Vogel. Ein weißer Vogel, vielleicht eine Taube? Aber es ging nicht um Frieden, seine intensive Sehnsucht – war sie sexuell? Und die Angst, eine erotische Angst?
Er roch bereits im Flur, was auf den Tisch kommen würde, an diesem Freitagabend gab es was Italienisches. Automatisch streckte er die Hand aus, aber kein Seppo. Nein Seppo, sein treuester Freund, war tot. Seppo war sein letzter Hund gewesen; intelligent, gut dressiert und loyal. Die Erinnerung an ihn war positiv. Aber es hatte keinen Zweck, sich ein neues Tier anzuschaffen, noch einmal von vorn anzufangen.
Er hängte den Mantel an die Garderobe und strich sich vor dem Spiegel über den Kopf. Er hätte sich einer plastischen Operation auf Staatskosten unterziehen können – zu der Erfrierung war es schließlich im Dienst gekommen –, aber er hatte das Angebot abgelehnt. Auch die Haare hatte er nicht wachsen lassen, um die deformierten Ohren zu verdecken. Er trug das Haar kurz und ließ es oft schneiden. Ihm gefiel so viel Gezottel nicht.
Er zog den Schlipsknoten zurecht und ging zu seiner Frau hinein.
Sie hatte im Esszimmer gedeckt, obwohl sie nur zu zweit waren. Anfangs war der feierliche Rahmen ihrer Freitagsmahlzeiten mehr ein Spaß gewesen, aber seit mehreren Jahren hatte ihr Miteinander immer ritualisiertere Formen angenommen. Der größte Teil des Lebens bestand inzwischen aus Ritualen, das war bequem und störte keinen.
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