„Gewiss, gewiss! Aber ich werde eben den Mut haben, das schändliche Lügengewebe dieser Menschen zu zerreissen. Oh, ich sage euch: Majestät wird meine Rede lesen und — dann hat die letzte Stunde der Loge geschlagen! Ist es nicht geradezu Hochverrat, durch Vorspiegelung ihrer sogenannten humanen Zwecke sich die Sympathie des Monarchen zu erschleichen, während im Grunde doch gerade die Vernichtung der Monarchie eines ihrer vornehmsten geheimen Ziele ist?“
„Ja, Pardon, lieber Onkel,“ beharrte Günther lächelnd, „du hast doch deine Ansicht von den revolutionären Bestrebungen der Loge nur aus Büchern geschöpft, und zwar meist aus Werken des vorigen Jahrhunderts, soviel ich weiss. Inzwischen sind aber doch die meisten der damals neuen liberalen Ideen uns allen in Fleisch und Blut übergegangen. Einiges davon gibt man freilich auch heutzutage noch nicht gern öffentlich zu — wir Säulen des Staates wenigstens nicht; aber so unter uns aufgeklärten Männern — na, Onkel, da mauern wir alle ein bisschen! Mir hat neulich erst jemand, der selbst Maurer ist, gesagt, dass die ganze Geschichte heutzutage kaum noch was andres vorstelle, als eine recht platte Vereinsmeierei, die durch ihren theatralischen Aufputz und die Geheimthuerei gerade auf beschränkte Köpfe einen besondern Reiz ausübt. Die Brüder Streber schieben einander gegenseitig weiter, das ist die Hauptsache, gerade so, wie es bei uns alten Herren vom S. C. auch die Hauptsache ist! Nimm mir’s nicht übel, Onkelchen, aber ich glaube, die wissenden Logenbrüder werden dir alle sagen, dass du sie aus Unkenntnis überschätzest.“
„So, glaubst du das wirklich!?“ fiel der Freiherr etwas gereizt ein, „dann bitte, sieh dir ’mal dies an! Was sagst du dazu?“ Er entnahm seinem Taschenbuche einen Brief, den er seinem Neffen mit einem triumphierenden Blick überreichte.
„Was Tausend!“ rief Günther, nachdem er die ersten Zeilen überflogen, „da redet dich einer mit ‚hell leuchtender Bruder‘ an?“
„Ja, und siehst du die Unterschrift? Meister der Loge Royal York. Der Mann dankt mir für meine von echt maurerischem Geiste erfüllte Abhandlung über den Gesang des Ariel in Goethes ‚Faust‘ und sagt — ja, das ist alles so schmeichelhaft, das darf ich gar nicht wiederholen! Meine Ironie hat er für bare Münze genommen, und mich hält er für ein grosses Licht der Loge — mich! hahaha! Du siehst also, dass ich die Dinge doch wohl einigermassen kennen muss!“
Günther trat unter allerlei Entschuldigungen den Rückzug an. Er wollte dem guten Onkel auch nicht gar zu bange machen, denn er erhoffte sich von seiner Rede einen hübschen Spass.
Lori hatte dem Gespräche mit ziemlichem Unbehagen zugehört, da sie wohl merkte, wie Günther den guten Papa mit seiner fixen Idee innerlich verhöhnte. In der Einsamkeit von Klein-Pölzin hatte sie ja immer nur gesehen, mit welcher Gründlichkeit ihr Vater bei seinen wissenschaftlichen Forschungen zu Werke ging; sie wusste, wie ernst es ihm mit allem war, was einmal seine geistige Teilnahme erregt hatte, und darum schmerzte es sie, wenn man dies alles zu bespotten wagte. Freilich hatte auch sie, seit sie in Berlin lebte, besonders im Gedankenaustausch mit ihrem so völlig vorurteilslosen, modernen Gatten erkannt, dass die Arbeit der Grossstadt mit ihrer ewig brodelnden Intelligenz etwas ganz andres sei, als die phantastische Grillenfängerei ländlicher Musse, ja, dass eine ganze Reihe von Anschauungen, die da draussen in der Provinz noch für völlig gegenwärtig gelten, von der flinken Kritik des Grossstädters längst überwunden und für gar nicht mehr diskutierbar erklärt worden waren. Wenn sie daran dachte, dass ihr lieber Vater vor dieser hochansehnlichen Versammlung, vor diesen hohnlachenden Fortschrittlern insbesondere, das Ergebnis jahrelanger, mit so heiligem Eifer betriebener Studien verkünden sollte, so überlief sie ein gelinder Schauder. In diesem besondern Falle vermochte sie ja nicht zu beurteilen, ob ihres Vaters Ansichten wirklich ernst zu nehmen seien; doch sagte ihr eine Ahnung, dass er im Begriff stehe, sich lächerlich zu machen. Sie wusste aber auch, dass ihr Papa recht eigensinnig sein konnte, wenn man seinen vorgefassten Meinungen widersprach, und darum wagte sie auch nicht, ihm von seinem gefährlichen Vorhaben auch ihrerseits noch abzureden. Vielleicht wirkten die spottenden Einwände des Vetters noch nach und machten ihn bedenklich.
Ein paar Minuten später sass Günther mit seiner schönen Base auf der Tribüne. Die Bänke der Abgeordneten waren ziemlich stark besetzt, und Günther vermochte eine ganze Anzahl parlamentarischer Charakterköpfe zu erkennen. Lori hatte sich nie viel um Politik gekümmert, doch interessierte sie immerhin das Treiben im hohen Hause, in welchem dem Reiche Gesetze gegeben wurden und das sie sich doch sehr anders vorgestellt hatte. Sie sah die meisten Abgeordneten mit Briefschreiben, Zeitunglesen und Schwatzen beschäftigt. Der Redner schien überhaupt nur für die Stenographen zu sprechen und höchstens für die paar Gegner, welche sich, Notizen machend, dicht an der Tribüne aufgestellt hatten. Am Schlusse klatschte die Partei des Redners diesem pflichtschuldigst Beifall, obwohl sie mit kaum grösserer Aufmerksamkeit als die Gegner zugehört hatte. Als der Abgeordnete Richter sprach, wurde man aufmerksamer, aber wie es Lori schien, auch nur, um die Gelegenheit zu höhnischem Gelächter und Zwischenrufen auf der Rechten, zu manchem triumphierenden „Hört! Hört!“ oder „Sehr richtig!“, zu lautem Beifall auf der Linken nicht zu versäumen. Genau das Umgekehrte wiederholte sich, als nach Richter ein bekannter Hochkonservativer das Wort ergriff.
Lori hatte den Eindruck, als ob es das einzige Bestreben aller dieser geschickten Redner sei, ihre Gegner als Dummköpfe darzustellen und die Lacher auf ihre eigene Seite zu ziehen. Der Zusammenhang mit dem Gegenstand der Verhandlung war Lori meist sehr unklar und sie begriff nicht, wozu alle diese spitzigen Auseinandersetzungen eigentlich führen sollten. Die lange Reihe von persönlichen Bemerkungen, welche die letzten Reden hervorriefen, arteten zu einem fröhlichen Witzgeplänkel aus, in welchem sogar der Kalauer nicht verschmäht wurde und in dem die kleine Excellenz von Meppen schliesslich den Vogel abschoss.
„Heute haben wir’s aber gut getroffen! Nicht wahr, Lori, das ist doch ganz lustig hier?“ wandte sich Günther lachend an seine Base.
„Ja, ich muss gestehen, etwas ernsthafter hatte ich mir eine Reichstagssitzung doch vorgestellt,“ erwiderte Lori, „dies hohe Haus scheint nur ein Eitelkeitsmarkt, wie andre mehr. Im Gegenteil, wenn unser Freund Werner Grey einen Toast auf die Damen ausbringt, so ist er wahrscheinlich ernstlicher für seinen Gegenstand begeistert, als diese Herren Volksvertreter hier.“
„Du sprachst ein grosses Wort gelassen aus!“ citierte Günther und fuhr dann mit überlegenem Lächeln fort: „Weisst du, wenn die Reichstagsverhandlungen nicht Wort für Wort in die Zeitungen kämen, dann würden sich verwünscht wenig Menschen bereit finden, Abgeordnete zu werden. Dass jemand sich durch die Rede eines Gegners von seiner vorgefassten Meinung abbringen liesse, das kommt so gut wie gar nicht vor. Die Parteileithämmel haben die Meinung für ihre Herde, und wehe dem, der einmal eine eigne Ansicht zu äussern wagte, oder der gar anerkennen wollte, dass ein Gegner ihn überzeugt habe! Solange das politische Fraktionswesen blüht, wird dieser ganze kostspielige Apparat nie etwas Positives für die Gesetzgebung leisten.“
„Aber wozu denn dann das alles?“
„Oh, die Regierung hat ja nur Vorteil davon, dass sie der Grossmannssucht, der eitlen Kannegiesserei dieses Ventil geöffnet hat. Die civilisierte Menschheit kommt sich heutzutage so überaus klug vor, dass sie alles besser wissen will, als die Leute, die die Regierungsarbeiten zu thun haben. Wenn diese eitlen Weisheitspächter nicht hier reden dürften, dann würden sie vielleicht handeln — und das könnte gefährlich werden! Sie glauben wunder, was sie mit ihrer Konstitution erreicht haben! Für den vernünftigen Mann ist diese Puppenkomödie nur ein Spass mehr in unsrer närrischen Welt. Wenn wir ’mal einen Kaiser und einen Kanzler hätten, die sich vor diesen Maulhelden da fürchteten, ja, dann sähe die Sache schlimm aus. Aber Gott sei Dank, unser Bismarck mit seiner souveränen Verachtung dieser hohen Körperschaft, der treibt sie ja noch alle zu Paaren. — Da, sieh ’mal, das ist Bebel. Ja, siehst du, die Leute sind gefährlich, die wissen, was sie wollen, und das kann sich natürlich keine Regierung gefallen lassen!“
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