Ernst Wiechert
Die Jeromin-Kinder - Zweiter Band
Saga
Die Jeromin-Kinder - Zweiter Band
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Copyright © 1947, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726927511
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
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Der Landjäger Korsanke ritt auf seiner hochbeinigen Fuchsstute durch das Dorf. Er saß gerade wie immer im Sattel, und wenn der leise, kaum fühlbare Schmerz unter dem Koppelschloß sich meldete, der ihm seit Monaten Unbehagen machte, richtete er sich noch gerader auf, zog die Augenbrauen ein wenig zusammen und blickte noch strenger als sonst über die spielenden Ohren des Pferdes hinweg auf die Dorfstraße, auf der die Hühner im Sande scharrten und an deren Rändern die Fliederbüsche nun wieder zu blühen begannen.
Korsankes Haar war nun ganz grau geworden, und wenn er nach rechts blickte, konnte er hinter den niedrigen Hütten den Kirchhof sehen, die alte Mauer aus Feldsteinen, die Holunder- und Fliederbüsche, und dazwischen die Gräber. Und am Ende der Gräber die langen Reihen der kleinen Hügel, unter denen die Kinder schliefen, um deren Tod der Pfarrer Agricola ein Abtrünniger geworden war. Auch Korsankes Sohn schlief dort, so viele Jahre schon, und einen Augenblick lang zog er die Zügel an, starrte hinüber nach dem Ort des Friedens und sah das schmerzverzogene Kindergesicht, das nach Atem rang, und die Gestalt des Pfarrers, der in einem Winkel auf den Knien lag und die Arme zu Gott erhob.
Ja, viel war geschehen, lieber Gott, und den Strom der Zeit hinuntergeschwommen. Vor dem Kriege und während des Krieges und nachher. Dienstritte in Sonnenschein und Regen, tagaus und tagein. Holzdiebstahl und Schlingensteller, Trunkenheit und Prügelei. Tote hatten auf dem Moos gelegen, mit blinden Augen, die nach dem Recht riefen, und feierliche Worte waren über sie gesprochen worden. Die alte Frau in der »Armen Sünde« hatte ihre Beichte in seine Hand diktiert, und am Meiler hatte Jakob gesessen und sich am Sinn der Welt die Seele zergrübelt. Und der Kaiser saß nun nicht auf dem Thron, sondern in einem Schloß in Holland, und Korsanke hatte einen neuen Eid geschworen, einen Eid auf die Republik, aber er wußte nicht, was eine Republik war. Die Großen bestimmten den Weg des Vaterlandes, und der kleine Mann gehorchte. Auch Korsanke gehorchte. Auch in der Republik brauchte man Brot, und Brot gab es für einen alten Beamten nur, wenn man den Eid nachsprach. »So wahr mir Gott helfe ...«
Korsanke erwachte aus seinen Gedanken und ließ dem Pferd die Zügel frei. Der leise Schmerz war wieder da, aber er wollte nicht zum Arzt gehen. Er wollte warten, bis Jons Ehrenreich Jeromin wiederkam, dem sie im Kriege die Hüfte verrenkt hatten und der ein großer Doktor werden würde, ein Wunderdoktor, auf den sein Dorf wartete. Vor ihm würde er den Uniformrock ausziehen und sich nicht schämen, denn Jons hatte er auf den Knien gehalten, und er war einer von den ihrigen. Einer aus dem Jeromin-Hause, aus dem so viel Wunderliches und Erschreckendes und Tröstendes ausgegangen war.
Wieder wollten seine Gedanken in die Vergangenheit zurückgehen, aber nun schüttelte Korsanke den Kopf, richtete sich im Sattel auf und ritt die Dorfstraße weiter, wobei er hier und da zwei Finger an den Helmrand legte und ein paar Worte über Wetter und Saatenstand sprach.
Die Fenster im Schulhaus standen offen, und er konnte die weißblonden und dunklen Köpfe sehen, wie sie sich nach dem gleichmäßigen Gang der Pferdehufe wendeten, und die helle, etwas knarrende Stimme des neuen Lehrers hören, der ein »Roter« war, wie die Kätner sagten. Aber Korsanke hatte seinen Eid geschworen, und es hatte ihm gleich zu sein, ob hinter dem Schulpult ein Roter saß oder ein Schwarzer oder ein sonstwie Gefärbter. Der Eid löschte die Farben aus.
Aber als Korsanke auf der Höhe war, wo der wilde Birnbaum stand und von wo man Dorf und See und Wald und Moor überblicken konnte, seufzte er doch ein bißchen auf, zog noch einmal die Zügel an und nahm den Helm ab, der ihm die Stirne drückte. Er war ein einfacher Mann und einfacher Leute Kind, aber dies konnte er doch fühlen, daß die Erde schön war, über die er ritt. Und daß es seine Heimaterde war. Ein verbranntes Dorf, aber die neuen Rohrdächer waren schon wieder grau, der Flieder blühte an den Zäunen, und auf dem Kirchenhügel stand die dunkle Fichte, die sie den »toten Pfarrer« nannten. Wo die Nonne die Wälder zerfressen hatte, leuchtete das junge Grün, der Fischadler kreiste über dem unbewegten See, und über dem Moor lag das blühende Wollgras wie ein schimmerndes Seidentuch. Friede, soweit seine Augen reichten, Friede nach einem blutigen Krieg, und Friede, solange es denen gefiel, die dem kleinen Mann den Eid abnahmen.
Was für ein seltsamer Tag, an dem seine Gedanken weit fort waren von der Haussuchung, die er im Nachbardorf abzuhalten hatte, und die wirren Wege gingen, die in Vergangenheit und Zukunft führten. Nur in der Krankheit gab es so etwas, im Fieber, aber Korsanke war nie krank gewesen, und Fieber war keine Krankheit, solange man im Sattel sitzen konnte.
Nun kam durch die offenen Schulfenster der Geigenstrich des neuen Lehrers, ein klarer, sauberer Strich, und dann ein paar Doppelgriffe, die sich wunderlich verschlangen und lösten. Die Luft war so still, daß jedes Schwingen der Töne zu hören war.
Wieder nahm Korsanke den Helm ab, weil die Stirn ihn schmerzte und weil er meinte, so besser hören zu können. Fast wie am Sonntag war es ihm zumute. Die Glocken waren mit der Kirche im Feuer vergangen, aber auch eine Geige war schön, wenn sie sich über ein stilles Dorf erhob, und daheim in seiner alten Kiste aus der Soldatenzeit, ganz tief auf dem Grunde, lag die kleine Kindergeige, die er seinem Sohn geschenkt hatte, ehe der Kindertod über das Dorf gekommen war. Er hatte sie nicht mehr gespielt, er hatte nur ein paarmal mit seinen blassen Fingern an den Saiten gezupft, und nachher hatte Korsanke sie in das Dunkle gelegt, und selbst seine Frau wußte nicht, wo sie geblieben war.
Es sei wohl auch nichts für arme Leute, dachte Korsanke noch wie zur Entschuldigung, aber dann hörte er, wie der Geigenbogen auf das Pult klopfte und dann, wie die Kinder zweistimmig in die neue Melodie einfielen. Eine leichtfertige, aufdringliche und, wie es Korsanke schien, unfromme Melodie. Eine Jahrmarktsmelodie, wie sie unter glitzernden Karussells ertönte, und Korsanke beugte sich im Sattel vor, um die Worte des Liedes zu verstehen.
»Im Jahre Sechsundsechzig,
zu Luxemburg am Rhein,
da ward ein Kind geboren
mit Namen Humpelbein.
Zum Hia ... hia ... humpel ...
zum Hia ... humpelbein!«
Korsanke, ohne zu wissen, was er tat, setzte seinen Helm wieder auf, und eine tiefe Falte erschien zwischen seinen grauen Augen.
Die Geige fügte eine fröhliche Kadenz an das letzte Wort, und dann erklangen die Kinderstimmen von neuem.
»Das Kind wollte Schauspieler werden,
die Mutter sagte: ›Nein!
Erst mußt du beten lernen,
verfluchtes Humpelbein!‹
Zum Hia ... hia ... humpel ...
zum Hia ... humpelbein!«
Korsanke saß nun ganz gerade im Sattel, die Zügel angezogen, und lauschte. Aber es kam nichts mehr. Die Geige schwieg, der Gesang schwieg, und nur die Lerchen standen jubelnd über den jungen Saatfeldern.
Da ritt Korsanke langsam weiter, den Blick auf die Ohren des Pferdes gerichtet. So war es also nicht nur der neue Eid und nicht nur die Republik. Es war mehr, und auch seinem einfachen Verstande ging es auf. Auch bei Stilling hatten die Kinder gesungen, und auch dann hatte Korsanke das Pferd angehalten. »Wie schön leuchtet uns der Morgenstern ...«, und das hatte er besonders gern gehört. Und auch bei Martin Gollimbeck hatten sie gesungen, der nun verschollen war in den Steppen Rußlands, und es waren fröhliche Lieder gewesen, wie ein einfaches Herz sie gedichtet hatte.
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