Dies aber war anders, und so hatten die Kinder von Sowirog noch nie gesungen. Eine neue Zeit, dachte Korsanke, und vielleicht wäre es gut, in Pension zu gehen, ehe sie auch von den Kanzeln solche Lieder sängen ... verfluchtes Humpelbein ... und wie viele humpelten über die Straßen des Reiches, denen er begegnete, mit und ohne Krücken, und mit finsteren Augen auf ihn und das Pferd blickend ...
Erst am Rand des Moores zog er so scharf die Zügel an, daß die alte Fuchsstute sich bäumte. Er hob den Kopf und die rechte Faust, wie ein Mann, dem in allem Grübeln ein großer, leuchtender Gedanke kommt, wendete das Pferd und jagte im Galopp bis zu Daidas Hütte zurück, die die erste am Dorfende war. Dort hing, wie er wußte, eine große Landkarte aus dem Weltkrieg neben dem Küchenfenster, mit Nägeln an das Holz der Wand geschlagen und noch lange nach dem Kriege in Ehren gehalten.
Er achtete nicht auf den erschreckten Ruf der Frau, die einen Herdring fallen ließ, trat dicht an die Karte und fuhr mit dem Zeigefinger über die dunkel gewordenen Flecken der Länder links des Rheines, bis er den Namen gefunden hatte. Er atmete tief auf, sah die blasse Frau mit seinen durchdringenden Augen an und sagte: »Hab' ich doch gewußt! Liegt ja gar nicht am Rhein!«
»Was ist denn, Herr Wachtmeisterchen?« erwiderte die Frau. »Er war ja nie bei der Nacht im Walde, so wahr mir Gott helfe!«
Erst nach einer Weile konnte Korsanke lächeln. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und nickte ihr begütigend zu. »Es ist nicht von wegen deinem Mann«, sagte er, »und du brauchst nicht zu schwören. Es ist nur, weil nicht einmal die Geographie in diesem verfluchten Liede stimmt, und das hätte er wenigstens wissen können, dieser neue Heilbringer!«
Und darnach stieg er wieder in den Sattel und trabte aus dem Dorfe heraus, und er achtete nicht mehr auf die Kinderstimmen, die wieder zweistimmig aus den Fenstern des Schulhauses herausdrangen.
Korsanke ritt um den See herum, immer in scharfem Trabe, und auch den leisen Schmerz fühlte er nicht mehr. Erst als der Weißbuchenwald ihn beschattete, den die Leute »das Paradies« nannten, und in dem vor Jahren Friedrich Jeromin erschossen gelegen hatte, zog er wieder die Zügel an und nahm den Helm an der Stelle ab, wo die alte Frau aus der »Armen Sünde« den Toten bewacht hatte. So vieles trug er in seinem Gedächtnis, und nichts war verlorengegangen, weder Menschenbilder, noch Worte, noch Lieder. Nicht einmal der braune Laubhaufen, der zwischen zwei Baumstümpfen lag, und das Sonnenlicht vergoldete die verdorrten Blätter. Ein gutes Gedächtnis war ein Segen für seinen Beruf, aber Vergeßlichkeit war besser für das menschliche Herz.
Und nun ritt er nach dem Dorfe, in dem das Mädchen zu Hause war, das dem Toten die »letzte Freude« geschenkt hatte, wie Jakob am Sarge gesagt hatte, und er hatte nie den Verdacht verloren, daß ihr Bruder um das Verbrechen gewußt hatte. Gegen dieses Haus war wieder eine Anzeige bei ihm eingelaufen, einer der zerknitterten Zettel, die er so wohl kannte und auf dem mit schwarzen Buchstaben geschrieben stand, daß Rehdecken und Gehörne auf dem Boden des Hauses versteckt seien.
Er seufzte beim Weiterreiten, und es verlangte ihn nach ein paar stillen Jahren des Friedens. Nach der Arbeit an den Bienenstöcken, an dem duftenden Nelkenbeet, nach einer stillen Abendstunde bei dem alten Lehrer Stilling, der mit seiner zitternden Hand die Weltkugel leise bewegte, die vor seinen Büchern stand und vor der er so eindringliche Worte der Weisheit zu sprechen verstand. Er war es müde, nach Rehdecken und Drahtschlingen zu suchen, nach Kornsäcken und Fahnenflüchtigen. Er wußte, was Not war, Not des Leibes und der Herzen, und wer das Böse aufhellte, ein ganzes Leben lang, nahm leicht Schaden an seiner Seele, und wenn auch nur an der Freudigkeit, die Gott in jede Seele gelegt hatte.
Er ritt langsam in das kleine Gehöft ein, band das Pferd an den verfallenen Zaun und trat in die Küche. Die Frau stand am Herd und nickte ihm nur spöttisch zu. Unter dem niedrigen Fenster aber saß der Sohn, den er in dem schweren Verdacht hatte, und sein rechter Rockärmel hing ihm lose und leer herab. Korsanke hatte das nicht gewußt. Nicht daß er aus dem Kriege zurückgekehrt war und daß es so geschehen war. Die Sprache verging ihm für einen Augenblick, und er starrte wortlos auf den leeren Ärmel, und hinter dem faltigen leblosen Stoff erblickte er wieder den braunen Laubhaufen aus dem »Paradiese« und die Augen des Toten, über denen die Frau aus der »Armen Sünde« die runzligen Hände gebreitet hielt.
»Damit ist es nun nichts mehr«, sagte er endlich. »Außer wenn du mit der linken Hand allein schießen kannst ...«
Der Angeredete verzog keine Miene, und es war so still wie in der Kirche, bis die Frau einen Herdring klirrend auf die Platte warf.
Da erwachte Korsanke, nahm die kurze Leiter, die an der Wand lehnte, und stieg langsam zur Bodenluke hinauf. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe unter dem Gerümpel umher, rückte hier eine zerfallene Kiste zur Seite und hob dort ein vermorschtes Brett aus dem Fußboden. Dann zuckte er nur die Schultern und stieg wieder hinunter. Er wußte, wie es bei solchen Haussuchungen ging.
»Seid vorsichtig!« sagte er unten. »Manchmal wartet Gott auf den zweiten Arm ...«
Und dann stieg er langsam in den Sattel und ritt die Dorfstraße weiter, ohne nach rechts oder links zu blicken. Es war ihm, als ob er aus einem Gerichtssaal käme.
Er ritt nicht denselben Weg zurück. Er ritt um den ganzen See herum, langsam und in Gedanken verloren, und nur wenn die Haubentaucher am Schilfrand lärmten, hob er den Blick und ließ ihn über die weite Wasserfläche gleiten. So viele Menschen und Schicksale, so viele, so viele. Da war die Insel, auf der der arme Pfarrer gelebt hatte und auf der der Großvater Jeromin im Feuer gen Himmel gefahren war, wie Elias. Und seine Enkel und Urenkel gingen wieder über dieselbe Erde ... Solch ein Dorf, klein und arm und von Leid geschlagen, wie lag es doch tief in der Ewigkeit geborgen. Menschen vergingen und Häuser vergingen, Wälder starben und Glocken zerschmolzen im Feuer. Aber das Dorf blieb stehen, der Urgrund der Menschengemeinde. Ein Hirte trieb die Herden aus und brachte sie am Abend wieder ein. Ein Mann mit dem Sälaken schritt über das sandige Feld, der Balken des Ziehbrunnens hob und senkte sich. Rauch stieg auf über grauen Dächern, und der Wind nahm ihn und trieb ihn fort. Geschlecht auf Geschlecht, Jahrhundert auf Jahrhundert.
Und hier ritt er die sandige Straße entlang, ein kleiner Mensch in einer bunten Uniform, und dachte, daß er die Ordnung aufrechterhalte, das Recht, das Gesetz. Wieviel Torheit unter einem blitzenden Helm! Unter allen blitzenden Helmen der Weltgeschichte!
Er kam von der andern Seite ins Dorf zurück, und vorher lenkte er von der Straße ab und ritt den schmalen Steig zum verlassenen Meiler. Es gab wohl Tage, an denen man immer rückwärts ritt, so regelmäßig auch das Pferd einen Huf vor den anderen setzte.
Die Lichtung lag so still, wie sie vor tausend Jahren gelegen sein mochte. Moos wuchs in grünen Flecken auf dem erloschenen Meiler, und die berußte Stange lehnte noch daran, mit der Jakob die Glut geprüft hatte.
Korsanke zog die Zügel an und sah auf die Schwelle der Hütte, auf der Michael gestorben war. Nun saß Frau Marthe da, in ihrem schwarzen Kleid, die Hände um die Knie gefaltet, und blickte durch ihn hindurch in die sonnigen Gründe.
Es fröstelte ihn wie in einem Totenland, aber er ritt doch näher, hob die Hand an den Helm und fragte nach ihrer Gesundheit.
Sie wendete langsam die Augen nach ihm, diese erloschenen und von Gram leergetrunkenen Augen, vor denen das Dorf sich fürchtete, aber sie antwortete nicht. Er wußte auch nicht, ob sie ihn erkannte, ja, ob sie ihn auch nur sah. Oder ob er nur ein formloser Nebel vor einem weiten Lande war, und niemand wußte, was sie auf diesem Lande sah.
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