Jons ertappte sich dabei, daß er wieder träume, und er lächelte sich gutmütig zu. Er merkte, daß die Straßenbahn nicht fuhr, und mußte an einer Hauptstraße eine Weile warten, weil ein langer Zug von Männern, Frauen und auch Kindern vorüberkam. Sie trugen rote Plakate mit vielen Aufschriften, und ein kleines Mädchen mit zwei festgeflochtenen, abstehenden Zöpfen blickte andächtig zu dem Schild auf, das ihre Hände trugen. »Nieder mit der Reaktion!« stand dort mit ungeschickt gemalten Buchstaben zu lesen, und während das Kind an Jons vorüberkam, strich er ihm lächelnd einmal über das sauber gescheitelte Haar. Aber es wich ihm aus und blickte zornig über die Schulter zurück, als habe er nicht begriffen, daß es sich um große Dinge handle, und daß diese großen Dinge gefährdet seien, wenn die dünne Stange in den schwachen Händen nicht sorgsam und senkrecht getragen werde.
Jons wartete, bis der lange Zug der Gesichter zu Ende ging, trotzige und eitle, bittere und leuchtende Gesichter, aber alle verhungert und entkräftet, seine Gedanken gingen mit einer unvermittelten schweren Traurigkeit zu dem Mädchen Margreta, dem er am Herzen gelegen hatte, bevor der Krieg ihn genommen hatte, und deren junger und zärtlicher Leib von Sprengstoffen zerrissen worden war, ehe er hatte blühen können zu seiner gottgewollten Bestimmung.
»Nun, Jeromin, ist der Dollar zu hoch gestiegen?« fragte sein Nachbar im Hörsaal, ein Lehrerssohn, der noch auf Krücken ging.
Aber Jons sah ihn an wie einen Fremden, und es war zu merken, daß er gar nicht wußte, wer neben ihm saß. Erst nach einer Weile kehrten seine Augen zurück, und er versuchte zu lächeln. »Nein«, erwiderte er und öffnete sein Kollegheft, »ich habe nur an das Lied gedacht: ›Dann gehet leise, auf seine Weise, der liebe Herrgott durch den Wald ...‹«
Der andere sah ihn vorsichtig von der Seite an. »Ein komischer Kauz sind Sie doch, Jeromin«, sagte er.
Dann kam der Professor, und sie nahmen ihre Bleistifte zur Hand.
Für Jons gab es schon im ersten Semester nicht viel mitzuschreiben. Davor bewahrte ihn die Erinnerung an Jumbos Weisheiten, und er wußte, daß alles, was der Professor sagte, viel klarer und faßlicher in den schweren Bänden aufgezeichnet war, die Jumbo ihm hinterlassen hatte. Er notierte nicht viel mehr als den »Gang der Handlung«, aber er zeichnete gern, was die zitternde Hand des Vortragenden mit merkwürdiger Sicherheit auf der Wandtafel erscheinen ließ. Man sagte, daß der Professor ein Morphinist sei, und um dieses Gerücht ließ Jons seine Gedanken wandern. Um die grauen und wie zerklüfteten Züge des abweisenden Gesichtes, um die schmalen, zitternden Hände, um das Leben dieses Fremden, wie es aus Sicherheit und Wissen in das Dumpfe des Rausches gelangt sein mochte, und wie der Geist wohl doch nicht ausreichte, um die Rätsel des Daseins zu bestehen.
Und von da ließ er seine Gedanken weitergehen, zu den vielen Gesichtern, die sich über die Hefte beugten, müde und erleuchtete Gesichter, rohe und demütige, und er versuchte zu erkennen, wie sie nun fünf oder sieben Jahre später sich über einen Sterbenden beugen würden, über das Mädchen etwa, das mit dem Plakat gegen die Reaktion so tapfer die Straßen entlanggegangen war, über den alten Lehrer Stilling etwa, oder gar über den furchtlosen Herrn von Balk. Und dann kehrte er wieder zu dem Mann an der Tafel zurück, der heimlich nach seiner Armbanduhr sah, und manchmal war ihm, als sei dies alles nicht ganz richtig, was hier betrieben wurde, als fehle etwas, was sich mit Worten nicht sagen ließ, aber er wußte nicht, was es war. Nur, daß er ab und zu an den jungen Studenten Tobias denken mußte, wie er nachts auf dem Grabenrand gestanden hatte, den Stahlhelm in den schmutzigen Händen, um die Seligpreisungen über die verbrannte Erde zu sprechen. Als liege da eine Lösung verborgen, aber als werde man lange Zeit brauchen, um sie zu finden.
Dann nickte er seinem Nachbarn mit den Krücken zu und ging langsam durch die stillen, grauen Straßen, zum Chemischen Institut, oder zur Anatomie, oder wohin sein Stundenplan ihn nun gehen hieß.
Was ihm am meisten Sorge machte, war nicht die Vielfalt der Arbeit, sondern ihr zäher und langsamer Gang. Daß der vorausfliegende Geist immer wieder zurückkehren mußte zu den Elementen und daß der Hand noch immer nichts zu tun blieb, als zu schreiben oder zu zeichnen, indes sie doch ein Messer halten wollte, um mit einem ganz behutsamen Schnitt in das Innere einer Schöpfung zu dringen, das Kranke vom Gesunden zu trennen und die Wurzeln des Lebens wieder freizulegen für Wachstum und Atem. Und unterdessen fiel die Mark, wie Fräulein Holstein sagte, wurden die Umzüge häufiger und länger, der Haß der Zeitungen bitterer, der Beifall der Studenten immer lauter, wenn einer der Professoren mit billigem Spott sich an die neuen Männer heranmachte, die nun das Schicksal des Reiches aus der Zerstörung herauszuführen versuchten.
Ja, auch der Krieg war ihnen ein Beruf gewesen, dachte Jons, wenn er die Gesichter in den Hörsälen betrachtete, ein Beruf wie dieses Studium, und es galt ihnen ganz gleich, ob sie den Tod gaben oder vor ihm retteten. Sie waren nicht neu geworden im Feuer der Schlachten, wie sein Vater neu geworden war, oder Jumbo; sie waren nur zurückgekommen und hatten einen anderen Rock angezogen. Einen Alltagsrock, aber an besonderen Gedenktagen hefteten sie ihre Orden an diesen Rock und verglichen heimlich, ob sie zahlreicher oder bedeutender waren als die Orden anderer.
In der Mittagszeit saß Jons für anderthalb Stunden auf dem alten Sofa mit den Porzellanknöpfen, aß schnell, was Fräulein Holstein ihm brachte, und nahm dann eines der Bücher aus den langen ernsten Reihen. Es war die einzige Zeit des Tages oder der Nacht, in der er nicht an sein Studium dachte. In der er Verse las oder die Lebensweisheit der Alten oder was andere Völker über den Weg der Menschheit gedacht hatten und dachten. Es war die »zwecklose« Stunde, wie er sie nannte, oder die »verbotene«, aber aus ihr gewann sich für ihn der tiefste Trost des Tages und der Nacht, die Ablösung von den Zwecken, die Erkenntnis der Macht des wahren Geistes, die immer zugleich eine Macht des Herzens war, und das leise Erschauern vor dem Zauber der Schönheit, die nicht an eine Menschenform gebunden war, nicht einmal an die Sprache allein, weil die Sprache nur eines der Mittel war, der vielen, mit denen das Tor der Wunder sich öffnen ließ.
Und am seltsamsten war ihm die Erfahrung, daß auf dem Grunde dieser Stunden, ja eigentlich hinter ihrem Grunde das Bild seines Dorfes mit einem ganz stillen Leuchten stand, als hätten die Alten wie die Neuen von ihm gewußt. Von den sanften Linien der Wälder und Hügel bis zu den ärmlichen Gespannen, die über die Äcker gingen, und von dort zu den stillen Gesichtern, die sich über den Pflug oder den Spinnrocken beugten. Als sei auch dort und gerade dort diese geheimnisvolle Schönheit zu Hause, die aus Tagewerk und Ehrfurcht sich zusammenwob, und die nur dort gedeihen konnte, wo Mensch und Menschenwerk sich nicht entfernt hatten von dem alten Urgrund, weder durch die Empörung noch durch den Geist.
Ging er dann wieder am frühen Nachmittag zur nächsten Vorlesung, so trug er die Erinnerung an diese Stunde wie einen stillen Talisman mit sich, ähnlich der feinen silbernen Kette, die er um seinen Hals fühlte und die das Mädchen Margreta ihm umgehängt hatte, als er in den Krieg gegangen war.
Brannte dann am Abend die kleine Petroleumlampe auf seinem Tisch, war der Buchfink zugedeckt und das Fenster hinter dem Vorhang verschwunden, so wischte er mit einer Bewegung seiner Hand die Zeit von seinem Tisch, Vergangenheit wie Gegenwart und Zukunft, und auf seinem Gesicht erschien der harte und gespannte Zug, den sein Vater gehabt hatte, wenn der Meiler zu glühen begann, der Zug eines Mannes, der sich zu verantworten beginnt, nicht vor einem Menschengericht, aber vor seinen Vorfahren oder seinen Kindern, und in diesen Stunden bis zur Mitternacht lernte er, was Arbeit ist, schwere, an die Menschen gewendete Arbeit, ohne Lohn, ohne Ruhm, aber von dem tödlichen Ernst erfüllt, der die Hand des Mannes zum Segen oder zum Fluch wenden kann.
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